Editorial 7 (2001) H.2
Begriff und Phänomen der strukturellen Kopplung
Der Begriff der strukturellen Kopplung hat den Charme eines Begriffes,
mit dem endlich auf den Punkt gebracht werden kann, was andernfalls
im blinden Fleck der allgemeinen ebenso wie der soziologischen Systemtheorie
verbleiben müßte. Er spricht von "Strukturen" und damit von Handfestem
und Verläßlichem inmitten einer Theorie, deren Systembegriff eher
auf die unwahrscheinliche Reproduktion eines ebenso prekären wie
riskanten Typs von Ereignissen, nämlich Kommunikationen, abstellt.
Er spricht von "Kopplungen" und damit von Verknüpfungen und Verbindungen,
die sich einem anderen Zustandsraum zu verdanken scheinen als jene
selbstreferentiellen Systemoperationen, bei denen man nie weiß und
wissen kann, wie sie die Probleme ihrer paradoxen Konstitution in
sich selbst lösen können. Und er spricht bei Humberto R. Maturana
ebenso wie bei Niklas Luhmann mit all dem von einer Beziehung zwischen
System und Umwelt, die von der System/Umwelt-Differenz zwar auch
in Rechnung gestellt, aber doch eher zugunsten der Diskontinuität
als einer möglichen Kontinuität beleuchtet wird. Man liest Systemtheorie,
stößt auf den Begriff der strukturellen Kopplung und atmet auf,
weil die Systemtheorie somit vielleicht doch noch nicht ganz ihren
Sinn für die Wirklichkeit der Wirklichkeit verloren hat.
Es ist nicht zu leugnen, daß der Begriff der strukturellen Kopplung
als Komplement des Begriffs der operationalen Schließung eine Korrekturfunktion
der Beleuchtung von System/Umwelt-Verhältnissen hat und daß er damit
auf Phänomene aufmerksam zu machen und sie in die Beschreibungen
der Systemtheorie zu integrieren vermag, die von einer Betonung
der Funktion der Interdependenzunterbrechung durch die Systemgrenze
andernfalls eher vernachlässigt werden. Und es ist auch nicht zu
leugnen, daß systemtheoretischen Beschreibungen damit eine gleichsam
realistischere Färbung gegeben werden kann, wenn "Realismus" heißt,
von der möglichen Interdependenz aller Phänomene auszugehen. Immerhin
ist diese Interdependenz der mit größerer Wahrscheinlichkeit erwartbare
Sachverhalt, wenn man sie damit vergleicht, daß jede Interdependenzunterbrechung
kontingent ist, also auch unterbleiben kann.
Andererseits ist genau dies der eigentliche Sinn des Systembegriffs.
Er will auf unwahrscheinliche Interdependenzunterbrechungen aufmerksam
machen und stellt die These auf, daß Leben, Bewußtsein und Kommunikation
für organische, psychische und soziale Systeme genau diese Interdepenzdenzunterbrechung
leisten.
Darum verliert der Begriff der strukturellen Kopplung, wenn man
ihm genauer nachgeht, sehr schnell allen Charme der Wiederentdeckung
eines verloren geglaubten Realismus und wird statt dessen zu einem
der anspruchsvollsten Begriffe der Systemtheorie, der sich an Unwahrscheinlichkeit
und Abstraktheit mit seinem Komplement, dem Begriff der operationalen
Schließung, sehr wohl messen kann. Man kann noch einen Schritt weitergehen
und vermuten, daß die beiden Begriffe nur in einer streng komplementären
Konstellation geeignet sind, sich in jene Tradition der europäischen
Philosophie, die immer auch eine Tradition theoretischen Denkens
war, einzuzeichnen, die Alfred North Whitehead als "a series of
footnotes" zur "philosophie of organism" Platons bezeichnet hat.
Denn diese Organismusphilosophie hat es von Anfang an mit dem Phänomen
der aktuellen Schließung im Horizont einer "Partizipation" am Potentiellen
in beiden Richtungen zu tun: Öffnung der Aktualität auf das Potentielle
und Einschreibung des Potentiellen in das Aktuelle. Die Philosophie
des Organismus beschreibt für den Kosmos, die Stadt (polis) und
die Seele Eigenschaften einer Einheit, die Einheit nur sein kann,
weil sie im Anderen, in der Zweiheit als ihrer eigene Bedrohung
und Absicherung konstituiert ist. In diesem Sinne partizipiert der
Begriff der strukturellen Kopplung an der Formparadoxie des Systems,
dem Einschluß des Ausgeschlossenen, stärker als es jeder Versuchung
zu einem Lockern des theoretischen Zugriffs lieb sein kann.
Die Beiträge zum Begriff und zum Phänomen der strukturellen Kopplung,
die wir hier vorlegen, gehen auf eine an der Universität Witten/Herdecke
im September 2000 ausgerichtete Tagung zurück, die die Entlastung
von der Theorie suchte und sich mit um so größerem Vergnügen in
die Theorie vertiefte. Wir freuen uns, einige Beiträge zu dieser
Tagung hier dokumentieren zu können, und bedauern, mit dem Abdruck
der Artikel wie so oft keinen Eindruck von der Diskussion geben
zu können. Wir bedauern dies schon deswegen, weil es Gelegenheit
geboten hätte, dem verbreiteten Eindruck entgegenzutreten, Texte
seien eher ein Beleg für operationale Schließung, eine Diskussion
dagegen der Ort für strukturelle Kopplung. Vielfach, nicht immer,
ist das Gegenteil der Fall. Dann zeugen Texte von jeder Unruhe struktureller
Kopplung und werden Diskussionen psychisch und sozial zum Fest der
operationalen Schließung. Aber auch dieser Eindruck täuscht. Tatsächlich
sind Texte und Diskussionen gleichermaßen von beidem, von operationaler
Schließung und von struktureller Kopplung, gekennzeichnet. Andernfalls,
und dies ist die These, der die folgenden Beiträge nachgehen, kämen
sie ebenso wenig vor wie irgend ein anderes soziales (oder psychisches
oder organisches) Phänomen.
Die folgenden Beiträge konzentrieren sich auf begriffliche und
soziologische Fragen. Psychologische und biologische Phänomene lagen
nicht im Einzugsbereich der Tagung. Wir geben Jean Clam das erste
Wort. Sein Beitrag geht der Frage nach, ob die Systemtheorie nicht
vielleicht doch mit dem Begriff der strukturellen Kopplung ihre
eigene bisherige theoretische Praxis übersteigt und ihren Ausgangspunkt
von der Einheit als Differenz zugunsten der Einsicht in ein Kontinuum
von Unterscheidungsoperationen korrigiert. Die drei Beiträge von
Elena Esposito, Giancarlo Corsi und Tania Lieckweg halten sich streng
an Irritationen, die zum einen im Begriff der strukturellen Kopplung
und zum anderen in den Phänomenen liegen, die er zu beleuchten vermag,
um "Computer" (Esposito), "Verfassungen" und "Personen" (Corsi)
sowie "Organisationen" (Lieckweg) als Fälle struktureller Kopplung
zu untersuchen. Dabei stellt sich heraus, daß der Begriff der strukturellen
Kopplung nicht nur ein Begriff für die Beschreibung von Irritationen,
sondern auch ein nicht zuletzt für die Theoretiker irritierender
Begriff ist, der für die Lebendigkeit (operationale Schließung und
strukturelle Kopplung) der Theorie, das heißt für das Aufwerfen
fruchtbarer Forschungsfragen, nicht unverantwortlich ist. Abschließend
gehen die beiden Herausgeber wieder einmal ihren Lieblingsfragen
nach und versuchen herauszufinden, ob ihre Schwäche für die Systemtheorie
noch in die Stärke eines Umgangs mit Gegenständen umgesetzt werden
kann.
Witten, im Oktober 2001
Dirk Baecker
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