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Hefte
SozSys 2 (1996), H.1
Zusammenfassungen

 

Zusammenfassungen

Niklas Luhmann:
Die Sinnform Religion

Der Beitrag beschreibt Religion als Lösung eines Problems, das mit jedem Gebrauch von Sinn auftritt. Dabei geht es nicht um Hilfe bei einer Sinnfindung oder um Rat, wie man ein sinnvolles Leben führen könne. Sinn ist ein Medium, das psychische und soziale Systeme benutzen, um sinnvolle Formen wie zum Beispiel Objekte, Symbole, Sätze zu erzeugen. Aber Sinn selbst ist keine sinnvolle Form. Es ist ein unbeobachtbares Medium, das bei jedem Gebrauch von Formen als die "andere Seite" dieser Formen miterzeugt wird. Es verlangt eine kontinuierliche Produktion und Reproduktion von Formen, läßt dabei aber zugleich einen unmarkierten Raum entstehen als Bedingung dafür, daß Formen überhaupt unterschieden werden können. Religion hat die einzigartige Funktion, den Umgang mit diesem Problem einer selbsterzeugten Unbestimmtheit zu regulieren, für den die normalen Operationen der Systeme nicht ausreichen. Das kann durch Gebrauch paradoxer Formen der Kommunikation geschehen oder durch Annahme des Todes des Lebens trotz einer unbekannten anderen Seite dieser Form und nicht zuletzt auch durch Unterscheidung von Glaubenden und Nichtglaubenden mit Bezug auf bestimmte dogmatisch fixierte Formen.

Wolfgang Fritscher:
Romantische Beobachtungen. Niklas Luhmanns soziologische Aufklärung als moderne soziologische Romantik

Niklas Luhmanns Systemtheorie der Moderne gilt wegen ihres fehlenden normativen Fundaments als Antipode kritischer Aufklärung. Richtig ist, daß seine soziologische Aufklärung – genau besehen – eine soziologische Romantik ist. Sie steht in spezifischer Weise auf der anderen Seite der Aufklärung. Eine normativ gestützte kritische Aufklärung und eine noch die letzte Stütze reflexiv relativierende Romantik sind die zwei Seiten einer Form, der Moderne. Die jeweils andere Seite ist nur über ein Re-entry der Form verfügbar. Soziologisches Aufklären durch Beobachten entstammt dem Erbe romantischer Ironie und ist konstituiert über ein Re-entry der Unterscheidung Aufklärung/Romantik auf der Seite der Romantik.

Michael King:
Managerialism versus Virtue. The Phoney War for the Soul of Social Work

Der Einzug des Managementdenkens in die Sozialarbeit hat bei vielen Sozialarbeitern die Befürchtung geweckt, daß die Sozialarbeit ihre "Seele" verlieren könne. Diese Befürchtung ist unbegründet, weil die Sozialarbeit nie eine Seele hatte. Die Sozialarbeit hatte sich zwar ausdifferenziert, indem sie wohlgemeinte Absichten pflegte, aber sie hat eine Reflexion auf nicht-intendierte Effekte vermieden, bis sie von Skandalen um Kindesmißhandlungen dazu gezwungen wurde. Der Artikel beschreibt die Bedeutung dieser Skandale für die Entstehung der caring professions in England. Professionalisierung war ein erster Schritt zur Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der sozialen Hilfe, das auf der Unterscheidung von Intervention und Nichtintervention beruht. Mithilfe dieser Unterscheidung transformiert das System das Rauschen der Problemfälle der Gesellschaft in Anlässe für eigene Operationen. Der Erfolg der Ausdifferenzierung führte heute zu der Fehleinschätzung, daß dieselbe Funktion auch mit im Sinne des "managerialism" effizienteren Methoden erreicht werden könne. Dabei wird als Kausalwissen interpretiert, was tatsächlich nur eine gesellschaftlich etablierte Interventionspraxis ist. Die Sensibilität dieser Praxis gegenüber dem Rauschen, auf das sie reagiert, wird dabei unterschätzt. Die Diskussion des "managerialism" würde davon profitieren, wenn man ihr eine Beschreibung der Ausdifferenzierungstypik des Funktionssystems der sozialen Hilfe zugrundelegen würde.

Rudolf Stichweh:
Variationsmechanismen im Wissenschaftssystem der Moderne

Der Aufsatz versucht die Frage nach den Mechanismen der Entstehung von Neuheit im Wissenschaftssystem der Moderne mit Hilfe evolutionstheoretischer Denkmittel zu beantworten. Dabei wird Evolutionstheorie als eine generelle Theorie verstanden, die in der Anwendung auf Kommunikationssysteme oder Systeme des Informationstransfers spezifiziert werden kann. Nach einer Skizze der frühneuzeitlichen Situation mit ihrem dominanten Interesse an Ordnung und Stabilität des Wissens werden drei evolutionäre Mechanismen, die für die Moderne charakteristisch sind, herausgearbeitet. Die wissenschaftliche Publikation als Mechanismus der Variation auf der Ebene des globalen Wissenschaftssystems wird auf die komplexe Vielfalt ihr vorgeschalteter interner und struktureller Selektoren bezogen, die vielfach den Eindruck erzeugen, daß die wissenschaftliche Publikation eine rationale Anpassung an eine kommunikative Selektionsumwelt verkörpert. Der binäre Wahrheitscode des Wissenschaftssystems wird als Mechanismus der Selektion identifiziert und seinerseits auf Theorien und Methoden als Instanzen einer im Selektionsmechanismus erfolgenden Repräsentation von Stabilisierungsbedarfen bezogen. Schließlich geht es um interne Differenzierung oder Disziplinbildung als dem Stabilisierungsmechanismus der Wissenschaft, der seinerseits Variationsanlässe vorstrukturiert. In einer disziplinär differenzierten Wissenschaft wird interdisziplinärer Kontakt als eine Möglichkeit revolutionärer Innovation wahrscheinlich, und dem entspricht die Ausdifferenzierung innovativer Gruppen, die Diskontinuitäten oder Malthusianische Instabilitäten in die Evolution der Wissenschaft einführen.

Raimund Hasse / Georg Krücken:
Was leistet der organisationssoziologische Neo-Institutionalismus? Eine theoretische Auseinandersetzung mit besonderer Berücksichtigung des wissenschaftlichen Wandels

Der organisationssoziologische Neo-Institutionalismus präsentiert eine Alternative zu gegenwärtigen Theorieangeboten in der Soziologie, die weit über den Bereich der Organisationssoziologie hinausgeht. Sein theoretisches Innovationspotential verdankt sich zwei grundlegenden Vorzügen der Organisationsforschung: empirische Fundierung und kontinuierlicher interdisziplinärer Erkenntnisfortschritt. Gegenüber anderen Organisationstheorien zeichnet den Neo-Institutionalismus die Einbeziehung über die Organisation hinausreichender gesellschaftlicher Erwartungsstrukturen aus. Gegenüber dem klassischen Institutionalismus in der allgemeinen Soziologie werden konstruktivistische Einsichten der Organisationsforschung berücksichtigt: Soziales Handeln entsteht nicht durch die Übernahme und Ausführung extern vorgegebener Normen, sondern durch den aktiven Umgang mit vielfältigen und widersprüchlichen Umwelterwartungen. Auf dieser Grundlage läßt sich ein Modell sozialen Wandels entwickeln, das nicht nur auf die Organisationsebene beschränkt ist und dessen analytischer Gehalt anhand gegenwärtiger Entwicklungen in der Wissenschaft dargestellt wird.

Peter Fuchs:
Die archaische Second-Order Society. Paralipomena zur Konstruktion der Grenze der Gesellschaft

Frühe Gesellschaften werden normalerweise als soziale Systeme mit unklaren (breiten) Grenzen betrachtet. Die Vermutung dabei ist, daß sie auf der Form der face-to-face-interaction beruhen. Dieser Aufsatz kann als ein Versuch begriffen werden zu zeigen, (1) daß frühe Gesellschaften fähig sind, beliebige Weltereignisse als Effekte unsichtbarer Selbstreferenz zu begreifen, (2) daß dies der Grund für die Entwicklung einer besonderen Art von Beobachtung zweiter Ordnung ist und (3), daß frühe Gesellschaften deshalb in die soziale Welt preadaptive advances eingeführt haben, die für spätere Gesellschaften außerordentlich bedeutsam waren, insbesondere für die Evolution, die sich auf Schrift bezieht.

Jürgen Kaube:
Rationales Handeln - Probleme seiner Theorie

Der Beitrag diskutiert zwei jüngere Versuche einer allgemeinen Sozialtheorie, die auf der Grundlage von Modellen rationalen Handelns entwickelt werden soll. Zentral ist dabei die Frage, ob es sich bei der Annahme rationaler Wahl um eine bloß methodische Abstraktion handelt, oder ob eine tatsächliche "Erklärung" von Handlungen beabsichtigt ist. Die beträchtliche Ambivalenz der vorliegenden Texte in diesem Punkt teilt sich auch ihrer Stellung zum ökonomischen Handlungsmodell mit. Begriffe wie "Tausch" und "Rationalität" schwanken zwischen beschreibender, erklärender und rein analytisch-instrumenteller Funktion. Rational-Choice-Theorien der vorliegender Machart zeigen zumeist nur, daß sich soziale Sachverhalte als Resultat rationalen Handelns darstellen lassen, nicht, daß sie tatsächlich aus solchem Handeln hervorgehen.

 

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