Uta Gerhardt:
Normative Integration moderner Gesellschaften als Problem der soziologischen
Theorie Talcott Parsons
Der Artikel wendet sich gegen die Fehlinterpretation, Parsons
Theorie der gesellschaftlichen Integration vertrete normativen Determinismus.
In drei Stufen wird werkgeschichtlich nachgezeichnet, wie Parsons
normative Integration versteht. Erstens sieht er in den dreißiger
Jahren darin ein Synonym für Demokratie (im Unterschied zu Diktatur,
die er als Desintegration erkennt und durch Anomie beschreibt).
Zweitens sieht er ab den fünfziger Jahren darin einen Begriff für
gesellschaftlichen Zusammenhalt, wobei er zwischen integrierten
und devianten Systemen unterscheidet; letztere werden u.a. am Paradigma
des Nationalsozialismus erläutert. Drittens sieht er ab den sechziger
Jahren darin eine Formel zur Erfassung multikultureller hochdifferenzierter
Gesellschaften, deren Funktionieren zu erklären ist; nun beschreibt
er die komplexen Wirkungskreise der Interaktionsmedien und untersucht
die Gesellschaftsgemeinschaft und die "polity" als Kristallisationsebenen
normativer Integration. Zusammenfassend über die drei Epochen der
Werkgeschichte zeigt sich, daß die drei Bestimmungen dessen, was
normative Integration bedeutet, nicht auf eine Grundform zu reduzieren
sind; sondern der Gedanke, dem derselbe Begriff in unterschiedlichen
Bestimmungen zugrundeliegt, wandelt sich mit den Problemen der Gesellschaftsgeschichte
der USA von den dreißiger zu den sechziger/siebziger Jahren.
Das Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik wird in Luhmanns
Werk meist als eine indirekte Anpassung der Semantik an die Sozialstruktur
beschrieben. In einem ersten Teil des Aufsatzes wird gefragt, wie
Luhmann diese lineare Nachträglichkeit der Semantik
in der allgemeinen Theorieanlage verankert. Eine derartige Relationierung
bleibt aber insofern den von Luhmann verworfenen marxistischen und
wissenssoziologischen Modellen von Semantik und Kultur verpflichtet,
da auch hier die Sozialstruktur als ein der Semantik Äußerliches
vorausgesetzt wird. Diskutiert werden soll, ob und wie eine derartige
Annahme mit der allgemeinen Theoriearchitektur kompatibel ist. Dabei
stehen zwei mögliche Einbettungen, die von Luhmann vorgeschlagen
werden, im Vordergurnd: zum einen der Bezug auf den allgemeinen
Strukturbegriff, zum anderen der Versuch einer beobachtungstheoretischen
Verankerung. Im zweiten Teil wird ausgehend von den Problemen,
die eine grundbegriffliche Verankerung der Sozialstruktur/Semantik-Unterscheidung
produziert ein alternatives Modell von Nachträglichkeit vorgeschlagen.
Informiert durch die psychoanalytische Figur der Nachträglichkeit
kann das Verhältnis von Semantik und Sozialstruktur flexibler organisiert
und die konstitutive Rolle von Beschreibungen für das durch sie
Beschriebene gedacht werden.
Rudolf Stichweh:
Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie
Der Aufsatz versucht den Stellenwert dreier in der Systemtheorie
kaum erwähnter Begriffe zu klären: Raum, Region und Stadt. Für den
Raumbegriff schlägt er eine Revision vor: Räumliche Differenzen
in der Umwelt der Gesellschaft wären unter dem Gesichtspunkt ihrer
strukturellen Kopplung mit Gesellschaft als Bedingungsfaktoren soziokultureller
Evolution zu prüfen. In dieser Hinsicht bedarf die Systemtheorie
der Erweiterung um eine Ökologie der Gesellschaft. Andererseits
gibt es die innergesellschaftliche Konstitution räumlicher Unterschiede
über sinnhafte Operationen. Hier rekonstruiert der Text in einer
naturalistischen Perspektive die Gründe, warum der Raum nicht als
eine weitere Sinndimension in Frage kommt. Diese Begriffsentscheidung
der Systemtheorie erscheint als ihrerseits durch die soziokulturelle
Evolution erzwungen. In den anschließenden Diskussionen der beiden
thematisch verwandten Begriffe Region und Stadt macht der Aufsatz
einerseits einen systematischen Vorschlag für die Verortung des
Begriffs Region in einer Differenzierungstheorie, die sich durch
das Faktum der Weltgesellschaft leiten läßt. Im Fall des Begriffs
der Stadt optiert er für die entgegengesetzte Richtung. Mittels
einer Minimalrekonstruktion der Geschichte der Chicago-Soziologie
affirmiert er die implizite Entscheidung der Systemtheorie, Stadt
heute nicht mehr als eine Zentralkategorie theoretischer Soziologie
aufzufassen.
Stefan Huf:
Sozialstaat und Marktökonomie oder: Wie voraussetzungsvoll
ist funktionale Differenzierung?
Der soziologischen Systemtheorie gilt die Umstellung der primären
Differenzierungsform von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung
als ein überaus unwahrscheinlicher, riskanter und voraussetzungsvoller
Prozeß. Dieses systemtheoretische Postulat wird im Beitrag aufgegriffen,
um die Funktion staatlicher Sozialpolitik aufzuzeigen, die in der
Flankierung dieses zentralen Modernisierungsprozesses gesehen werden
kann. Sozialpolitik ermöglicht demnach die funktionale Ausdifferenzierung
der Marktökonomie, kompatibilisiert Kapitalismus und Demokratie,
verhindert Exklusionsdynamiken und garantiert Inklusion der Gesamtbevölkerung
in die Leistungssysteme der modernen Gesellschaft. Damit wird traditionellen
Theorien widersprochen, die Sozialpolitik als "Politics against
Markets" konzeptualisieren und "Dekommodifizierung"
als ihre zentrale Funktion ansehen.
André Kieserling:
Klatsch: Die Moral der Gesellschaft in der Interaktion unter Anwesenden
Von Klatsch spricht man immer dann, wenn das Verhalten von Abwesenden
einer moralisch negativen Bewertung unterzogen wird. Nun ist der
Begriff der Abwesenheit nicht ohne jede Referenz auf das Sozialsystem
einer Interaktion unter Anwesenden zu begreifen, ebenso wie umgekehrt
dem Begriff der Moral eine Referenz auf das umfassende Sozialsystem
der Gesellschaft innewohnt. Der Beitrag soll denn auch zeigen, daß
man den Klatsch am besten aus der Spannung zwischen diesen beiden
Systemreferenzen verstehen kann. Er geht aus von der Hypothese,
daß die Interaktion sich immer dann bemüht, die gesellschaftliche
Moral zu dethematisieren, wenn diese als zu konfliktnah erscheint,
während die Gesellschaft auch und gerade in solchen Fällen nicht
ohne eine entsprechende Rethematisierung der Moral auskommt. Und
er hält es für eine zentrale Einsicht, daß der Klatsch diese beiden
Strategien zu kombinieren vermag: er dethematisiert die Moral, solange
der eigentliche Adressat einer möglichen Beschwerde anwesend ist,
und er rethematisiert sie in dessen Abwesenheit und mit Umleitung
der Thematik an Dritte. Es ist leicht zu erkennen, daß und wie auf
diese Weise moralische Komplexität aufgebaut wird. Die sozialstrukturellen
Bedingungen, unter denen dies möglich ist, lassen sich jedoch angesichts
der spezifisch modernen Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft
nur noch im Bereich formaler Organisation realisieren. Eine soziologische
Theorie, die dem Klatschphänomen (und ebenso dem Komplementärphänomen
der Schmeichelei) gerecht werden will, müßte demnach in der Lage
sein, einen Wechsel der Systemreferenz von Interaktion zu Organisation
und von Organisation zu Gesellschaft zu steuern. Der Beitrag, der
sich primär auf die Vorgaben aus der allgemeinen Theorie sozialer
Systeme stützt, soll daher zugleich demonstrieren, daß diese Theorie
jener Bedingung genügt.
Wolfgang Ludwig Schneider:
"Überheblichkeit" als Delikt. Das Modell der Gesinnungsgemeinschaft
als Prämisse ostdeutscher Beobachtung westdeutschen Verhaltens
"Überheblichkeit" oder "Arroganz", diese Zuschreibung
gehört zum ostdeutschen Standardportrait der Westdeutschen. Darin
wird das Verhalten vieler Westdeutscher als normwidrig gedeutet
und auf eine negative Charakterdisposition zurückgeführt. Der Beitrag
versucht den Deutungshintergrund dieser Abweichungszuschreibung
anhand unterschiedlicher Materialien zu rekonstruieren. Methodische
Grundlage dafür ist die Verknüpfung des beobachtungstheoretischen
Instrumentariums der Systemtheorie mit den analytischen Mitteln
der Hermeneutik. Die dabei zutage geförderte Grundstruktur ist definiert
durch ein Interaktionsideal, das als impliziter Referenzpunkt für
die Etikettierung eines Verhaltens als "überheblich" fungiert,
das Ideal der Gesinnungsgemeinschaft. Dieses Interaktionsideal artikulierte
sich unter DDR-Bedingungen auf zweierlei Weise: in einer offiziellen
hierarchischen Version durch den Gebrauch des Beobachtungsschemas
Überheblichkeit vs. Unterordnung unter den Führungsanspruch
der Partei und in einer auch informell praktizierten egalitären
Version unter Verwendung der Differenz Überheblichkeit
vs. Einordnung ins Kollektiv. In der egalitären Ausprägung,
so die hier explorierte Hypothese, könnte dieses Schema auch heute
noch in Gebrauch sein und ein wesentliches Element der ostdeutschen
Beobachtung westdeutschen Verhaltens bilden.
Stefan Titscher / Michael
Meyer:
Text und Gegentext. Die Differenztheoretische Text-Analyse (DTA):
Ein Methodenvorschlag
Der Beitrag stellt eine neu entwickelte Methode vor, die Differenztheoretische
Textanalyse (DTA). Der Name soll den theoretischen Ausgangspunkt
und den Einsatzbereich dieser sozialwissenschaftlichen Methode bezeichnen:
Sie umfaßt eine Reihe von Regeln, mit deren Hilfe in jeder Art von
Text die der Textproduktion zugrundeliegenden Selektionen bzw. Wahrnehmungsraster
herausgefunden werden können. Mit einem heuristischen Verfahren
wird ein Gegentext produziert, der den Hintergrund bietet, vor dem
gesprochene oder geschriebene Texte erst verstanden werden können.
Nach der Darstellung der theoretischen Grundlagen und der Zielsetzung
wird das konkrete Vorgehen beschrieben und an einem Beispiel vorgeführt.
Daraus läßt sich die Antwort auf die Frage abschätzen, ob derart
abstrakte theoretische Annahmen überhaupt operationalisiert werden
können und ob die hier vorgestellte Vorgehensweise einen gangbaren
Weg dafür bietet. Ein Vergleich mit anderen Methoden der Textanalyse
soll die Einordnung der DTA in das Spektrum einschlägiger sozialwissenschaftlicher
Vorgehensweisen erlauben und den möglichen Ertrag der mit dieser
Methode erzielbaren Ergebnisse abschätzbar machen.
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