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Hefte
SozSys 4 (1998), H.2
Zusammenfassungen

 

Abstracts

Uta Gerhardt:
Normative Integration moderner Gesellschaften als Problem der soziologischen Theorie Talcott Parsons’

Der Artikel wendet sich gegen die Fehlinterpretation, Parsons’ Theorie der gesellschaftlichen Integration vertrete normativen Determinismus. In drei Stufen wird werkgeschichtlich nachgezeichnet, wie Parsons normative Integration versteht. Erstens sieht er in den dreißiger Jahren darin ein Synonym für Demokratie (im Unterschied zu Diktatur, die er als Desintegration erkennt und durch Anomie beschreibt). Zweitens sieht er ab den fünfziger Jahren darin einen Begriff für gesellschaftlichen Zusammenhalt, wobei er zwischen integrierten und devianten Systemen unterscheidet; letztere werden u.a. am Paradigma des Nationalsozialismus erläutert. Drittens sieht er ab den sechziger Jahren darin eine Formel zur Erfassung multikultureller hochdifferenzierter Gesellschaften, deren Funktionieren zu erklären ist; nun beschreibt er die komplexen Wirkungskreise der Interaktionsmedien und untersucht die Gesellschaftsgemeinschaft und die "polity" als Kristallisationsebenen normativer Integration. Zusammenfassend über die drei Epochen der Werkgeschichte zeigt sich, daß die drei Bestimmungen dessen, was normative Integration bedeutet, nicht auf eine Grundform zu reduzieren sind; sondern der Gedanke, dem derselbe Begriff in unterschiedlichen Bestimmungen zugrundeliegt, wandelt sich mit den Problemen der Gesellschaftsgeschichte der USA von den dreißiger zu den sechziger/siebziger Jahren.

Urs Stäheli:
Die Nachträglichkeit der Semantik. Zum Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik
(Vollständiger Aufsatz)

Das Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik wird in Luhmanns Werk meist als eine indirekte Anpassung der Semantik an die Sozialstruktur beschrieben. In einem ersten Teil des Aufsatzes wird gefragt, wie Luhmann diese ‘lineare Nachträglichkeit’ der Semantik in der allgemeinen Theorieanlage verankert. Eine derartige Relationierung bleibt aber insofern den von Luhmann verworfenen marxistischen und wissenssoziologischen Modellen von Semantik und Kultur verpflichtet, da auch hier die Sozialstruktur als ein der Semantik Äußerliches vorausgesetzt wird. Diskutiert werden soll, ob und wie eine derartige Annahme mit der allgemeinen Theoriearchitektur kompatibel ist. Dabei stehen zwei mögliche Einbettungen, die von Luhmann vorgeschlagen werden, im Vordergurnd: zum einen der Bezug auf den allgemeinen Strukturbegriff, zum anderen der Versuch einer beobachtungstheoretischen Verankerung. Im zweiten Teil wird – ausgehend von den Problemen, die eine grundbegriffliche Verankerung der Sozialstruktur/Semantik-Unterscheidung produziert – ein alternatives Modell von Nachträglichkeit vorgeschlagen. Informiert durch die psychoanalytische Figur der Nachträglichkeit kann das Verhältnis von Semantik und Sozialstruktur flexibler organisiert und die konstitutive Rolle von Beschreibungen für das durch sie Beschriebene gedacht werden.

Rudolf Stichweh:
Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie

Der Aufsatz versucht den Stellenwert dreier in der Systemtheorie kaum erwähnter Begriffe zu klären: Raum, Region und Stadt. Für den Raumbegriff schlägt er eine Revision vor: Räumliche Differenzen in der Umwelt der Gesellschaft wären unter dem Gesichtspunkt ihrer strukturellen Kopplung mit Gesellschaft als Bedingungsfaktoren soziokultureller Evolution zu prüfen. In dieser Hinsicht bedarf die Systemtheorie der Erweiterung um eine Ökologie der Gesellschaft. Andererseits gibt es die innergesellschaftliche Konstitution räumlicher Unterschiede über sinnhafte Operationen. Hier rekonstruiert der Text in einer naturalistischen Perspektive die Gründe, warum der Raum nicht als eine weitere Sinndimension in Frage kommt. Diese Begriffsentscheidung der Systemtheorie erscheint als ihrerseits durch die soziokulturelle Evolution erzwungen. In den anschließenden Diskussionen der beiden thematisch verwandten Begriffe Region und Stadt macht der Aufsatz einerseits einen systematischen Vorschlag für die Verortung des Begriffs Region in einer Differenzierungstheorie, die sich durch das Faktum der Weltgesellschaft leiten läßt. Im Fall des Begriffs der Stadt optiert er für die entgegengesetzte Richtung. Mittels einer Minimalrekonstruktion der Geschichte der Chicago-Soziologie affirmiert er die implizite Entscheidung der Systemtheorie, Stadt heute nicht mehr als eine Zentralkategorie theoretischer Soziologie aufzufassen. 

Stefan Huf:
Sozialstaat und Marktökonomie – oder: Wie voraussetzungsvoll ist funktionale Differenzierung?

Der soziologischen Systemtheorie gilt die Umstellung der primären Differenzierungsform von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung als ein überaus unwahrscheinlicher, riskanter und voraussetzungsvoller Prozeß. Dieses systemtheoretische Postulat wird im Beitrag aufgegriffen, um die Funktion staatlicher Sozialpolitik aufzuzeigen, die in der Flankierung dieses zentralen Modernisierungsprozesses gesehen werden kann. Sozialpolitik ermöglicht demnach die funktionale Ausdifferenzierung der Marktökonomie, kompatibilisiert Kapitalismus und Demokratie, verhindert Exklusionsdynamiken und garantiert Inklusion der Gesamtbevölkerung in die Leistungssysteme der modernen Gesellschaft. Damit wird traditionellen Theorien widersprochen, die Sozialpolitik als "Politics against Markets" konzeptualisieren und "Dekommodifizierung" als ihre zentrale Funktion ansehen. 

André Kieserling:
Klatsch: Die Moral der Gesellschaft in der Interaktion unter Anwesenden

Von Klatsch spricht man immer dann, wenn das Verhalten von Abwesenden einer moralisch negativen Bewertung unterzogen wird. Nun ist der Begriff der Abwesenheit nicht ohne jede Referenz auf das Sozialsystem einer Interaktion unter Anwesenden zu begreifen, ebenso wie umgekehrt dem Begriff der Moral eine Referenz auf das umfassende Sozialsystem der Gesellschaft innewohnt. Der Beitrag soll denn auch zeigen, daß man den Klatsch am besten aus der Spannung zwischen diesen beiden Systemreferenzen verstehen kann. Er geht aus von der Hypothese, daß die Interaktion sich immer dann bemüht, die gesellschaftliche Moral zu dethematisieren, wenn diese als zu konfliktnah erscheint, während die Gesellschaft auch und gerade in solchen Fällen nicht ohne eine entsprechende Rethematisierung der Moral auskommt. Und er hält es für eine zentrale Einsicht, daß der Klatsch diese beiden Strategien zu kombinieren vermag: er dethematisiert die Moral, solange der eigentliche Adressat einer möglichen Beschwerde anwesend ist, und er rethematisiert sie in dessen Abwesenheit und mit Umleitung der Thematik an Dritte. Es ist leicht zu erkennen, daß und wie auf diese Weise moralische Komplexität aufgebaut wird. Die sozialstrukturellen Bedingungen, unter denen dies möglich ist, lassen sich jedoch angesichts der spezifisch modernen Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft nur noch im Bereich formaler Organisation realisieren. Eine soziologische Theorie, die dem Klatschphänomen (und ebenso dem Komplementärphänomen der Schmeichelei) gerecht werden will, müßte demnach in der Lage sein, einen Wechsel der Systemreferenz von Interaktion zu Organisation und von Organisation zu Gesellschaft zu steuern. Der Beitrag, der sich primär auf die Vorgaben aus der allgemeinen Theorie sozialer Systeme stützt, soll daher zugleich demonstrieren, daß diese Theorie jener Bedingung genügt.

Wolfgang Ludwig Schneider:
"Überheblichkeit" als Delikt. Das Modell der Gesinnungsgemeinschaft als Prämisse ostdeutscher Beobachtung westdeutschen Verhaltens

"Überheblichkeit" oder "Arroganz", diese Zuschreibung gehört zum ostdeutschen Standardportrait der Westdeutschen. Darin wird das Verhalten vieler Westdeutscher als normwidrig gedeutet und auf eine negative Charakterdisposition zurückgeführt. Der Beitrag versucht den Deutungshintergrund dieser Abweichungszuschreibung anhand unterschiedlicher Materialien zu rekonstruieren. Methodische Grundlage dafür ist die Verknüpfung des beobachtungstheoretischen Instrumentariums der Systemtheorie mit den analytischen Mitteln der Hermeneutik. Die dabei zutage geförderte Grundstruktur ist definiert durch ein Interaktionsideal, das als impliziter Referenzpunkt für die Etikettierung eines Verhaltens als "überheblich" fungiert, das Ideal der Gesinnungsgemeinschaft. Dieses Interaktionsideal artikulierte sich unter DDR-Bedingungen auf zweierlei Weise: in einer offiziellen hierarchischen Version durch den Gebrauch des Beobachtungsschemas ‘Überheblichkeit’ vs. ‘Unterordnung unter den Führungsanspruch der Partei’ und in einer auch informell praktizierten egalitären Version unter Verwendung der Differenz ‘Überheblichkeit’ vs. ‘Einordnung ins Kollektiv’. In der egalitären Ausprägung, so die hier explorierte Hypothese, könnte dieses Schema auch heute noch in Gebrauch sein und ein wesentliches Element der ostdeutschen Beobachtung westdeutschen Verhaltens bilden.

Stefan Titscher / Michael Meyer:
Text und Gegentext. Die Differenztheoretische Text-Analyse (DTA): Ein Methodenvorschlag

Der Beitrag stellt eine neu entwickelte Methode vor, die Differenztheoretische Textanalyse (DTA). Der Name soll den theoretischen Ausgangspunkt und den Einsatzbereich dieser sozialwissenschaftlichen Methode bezeichnen: Sie umfaßt eine Reihe von Regeln, mit deren Hilfe in jeder Art von Text die der Textproduktion zugrundeliegenden Selektionen bzw. Wahrnehmungsraster herausgefunden werden können. Mit einem heuristischen Verfahren wird ein Gegentext produziert, der den Hintergrund bietet, vor dem gesprochene oder geschriebene Texte erst verstanden werden können. Nach der Darstellung der theoretischen Grundlagen und der Zielsetzung wird das konkrete Vorgehen beschrieben und an einem Beispiel vorgeführt. Daraus läßt sich die Antwort auf die Frage abschätzen, ob derart abstrakte theoretische Annahmen überhaupt operationalisiert werden können und ob die hier vorgestellte Vorgehensweise einen gangbaren Weg dafür bietet. Ein Vergleich mit anderen Methoden der Textanalyse soll die Einordnung der DTA in das Spektrum einschlägiger sozialwissenschaftlicher Vorgehensweisen erlauben und den möglichen Ertrag der mit dieser Methode erzielbaren Ergebnisse abschätzbar machen.

 

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