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SozSys 5 (1999), H.2
Zusammenfassungen

 

Zusammenfassungen

Niklas Luhmanns Notizen zu "Reden und Schweigen"

Im Jahre 1989 erschien das Buch ”Reden und Schweigen” als das Resultat einer langjährigen Zusammenarbeit von Niklas Luhmann und Peter Fuchs.  Die hier erstmals publizierten Notizen geben einen Eindruck davon, wie diese Zusammenarbeit abgelaufen ist. Sie sind, das versteht sich von selbst, in vielem vorläufig, sie zeigen das Ausprobieren von Denkfiguren und einen Denkstil, einen beweglichen, geschmeidigen, pathosfreien Stil, dem man die Werkstatt noch ansieht, aber der sehr oft schon ins Druckreife überging.

Jean Clam:
Romantisme du lien, latence du symbole. Autour des paradoxes d'une
sociologie de l'intimité moderne

Zusammenfassung: Die Arbeit stellt eine anfängliche, aber doch radikale Auseinandersetzung mit einem Stil soziologischen Denkens dar, der in Frankreich bestimmend ist und dadurch zur Blockierung alternativer gesellschaftstheoretischer Stile beiträgt. Es geht um die Sozioanthropologie der Gabe (le don), die sehr schön an die "faits sociaux totaux" Durkheims anschließt und eine starke Verfestigung der soziologischen Grundkategorie des Symbolischen zur Folge hat. Die massive Kryptonormativität der französischen Soziologie gründet in der Kanonisierung der Kategorie des "symbolischen Austauschs" (échange symbolique), an deren Befestigung der Strukturalismus beigetragen hat. Daß unsere ausdifferenzierten Gesellschaften ohne diese Dimension des Symbolischen auskommen, ja vielleicht gerade aus dem Verzicht auf eine solche einen Teil ihrer Dynamik schöpfen, entgeht jener Soziologie völlig. Das Festhalten an jener Grundkategorie schlägt sich in ein Defizit der analytischen Pertinenz und einer verwirrenden, weil in jede Richtung (sowohl des Humanismus als auch des Antihumanismus) biegbaren, konstanten moralisch-kritischen Einstellung nieder.

Die Arbeit geht von einer höchst aktuellen, für den Argumentationsstil der französichen Intellektualität besonders kennzeichnenden Debatte aus, der um das Contrat d'union Sociale (CUS) – das nach längerem Wanken in der Terminologie PACS (PActe Civil de Solidarité) heißen soll. Die Soziologin Irène Théry ist von der französischen Regierung mit der Verfassung eines Rapport beauftragt worden, der heute vorliegt und als Grundlage für die gesetzgeberische Arbeit benutzt wurde. Meine Besprechung der Analysen und Stellungnahmen dieses Rapports ist Ausgangspunkt für die Thematisierung der Funktionsweise des kritischen Diskurses der zugrundeliegenden Soziologie. Es ergeben sich Einsichten in die Ambiguität einer kritisch-libertären Soziologie, die sich gleichzeitig der normativen Kategorie der symbolischen Reziprozität verpflichtetet wissen will. Die Arbeit stellt weniger auf positive Analysen der gesellschaftlichen Systemdifferenziertheit ab als auf die Aufdeckung der Entfernung, die uns von den substanziellen symbolischen Quellen gemeinschaftlichen Handelns trennt.

Hierzu werden Kontrastvorstellung aus heutigen Gesellschaften berufen, in denen noch solche substantielle Symbolik, residuell aber deswegen vielleicht um so vehementer, lebendig ist. Am Beispiel der Speisung des islamischen Strafrechts (der hudûd) mit dieser Symbolik wird eine soziologische Beschreibung der symbolisch-affektuellen Absicherung von nicht relativierbaren Verboten entwickelt. Von hier aus lassen sich die typischen Prozesse der Desymbolisierung verdeutlichen, welche mit der funktionalen Differenzierung unserer Gesellschaften einhergehen. Die Latenz des Symbolischen in diesen Gesellschaften scheint dann sehr schwer aufhebbar.

Dirk Baecker:
Die Preisbildung an der Börse

Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht die Börse als paradigmatischen Fall eines organisierten Marktes. Dieser Markt faßt das Emergenzproblem des Preises, das Organisationsproblem anarchischer Koordination und das Zeitproblem der Spekulation auf die Differenz von Vergangenheit und Zukunft in das diese Teilprobleme zugleich lösende Problem der Kommunikation von Risiken zusammen. Eine systemtheoretische Analyse zeigt, daß die Börse von Zahlungsentscheidungen reproduziert wird, denen die Logik der Risikowette zugrundeliegt. Diese Logik unterscheidet Ereignisse, auf die gewettet wird, von anderen, störenden Ereignissen. Sie unterscheidet den, der wettet, vom Lauf der Ereignisse, auf den gewettet wird. Und sie unterscheidet den Wettenden von denjenigen, die ihn beobachten und ihrerseits Wetten darauf abschließen, wessen Wetten aussichtsreich scheinen. Diese Logik ist zirkulär gebaut und ist im Milieu der modernen Wirtschaft, ihrer Märkte und Organisationen in der Lage, jene sachliche, zeitliche und soziale Komplexität zu generieren, die die Börse typischerweise aufweist.

Wolfgang Krohn:
Funktionen der Moralkommunikation
(Vollständiger Aufsatz)

Zusammenfassung: Der Beitrag entwirft einen soziologischen Rahmen zum Verständnis des Fortbestandes ethischer Konflikte und Kontroversen in der gegenwärtigen Gesellschaft. In der Theorie funktionaler Differenzierung wird die gesellschaftliche Bindungskraft der Moral auf die Kommunikation interpersonaler Achtung eingegrenzt. Die Theorie hat dann Schwierigkeiten mit der Verarbeitung der beobachtbaren Zunahme an moralisch diskutierten und von ethischen Experten verhandelten Problemen in sozialen, kulturellen und ökologischen Kontexten. Es wird ein Model entwickelt, das einerseits in den Funktionssystemen ethische Institutionen zur Verteidigung spezieller Funktionswerte gegen übergreifende Moralforderungen lokalisiert, und andererseits von der Wirksamkeit des moralischen Protests von Solidargruppen ausgeht. Die Flexibilität einer Gesellschaft, die ständig Modernisierung betreibt, hängt davon ab, ob sie die Spannungen zwischen institutioneller Moral und Protestmoral in diskursiven Konflikten verarbeiten kann.

Petra Gehring:
Benjamins Kritik und Luhmanns Beobachtung: Perspektiven einer
Zeittheorie der Gewalt

Zusammenfassung: Die Rechtstheorie Niklas Luhmanns enthält mehrmals ausdrückliche Verweise auf Walter Benjamins Essai "Zur Kritik der Gewalt". Bei beiden Autoren hat das Thema der Gewalt seinen Platz. Sie beschreiben die physische Gewalt als Phänomen auf der Schwelle einer Ordnung, die gewaltsam gestiftet, erhalten und im Grenzfall durch Gewalt durchbrochen wird. Beide Theorien konfrontieren sich auf ihre Weise mit der Unmöglichkeit, die Gewalt als Ereignis innerhalb der normativen Ordnung, aber auch der kommunikativen, der historischen, der Wahrnehmungsordnung zu denken. Der Aufsatz umreißt die Gewaltkonzeptionen bei Benjamin und Luhmann und skizziert die erkenntnistheoretischen Aporien. Beide Autoren versetzen das Thema in die Nähe einer zeittheoretischen Problematik - der Frage der Unmittelbarkeit, des 'reinen' Ereignisses, der nicht temporalisierten Gleichzeitigkeit der Gegenwart. Mit systematischen Überlegungen schließt der Aufsatz hier an. Vorgeschlagen werden Grundlinien einer zeittheoretischen Annäherung an das Gewaltphänomen.

Harald Baedeker:
Lokalität und Translokalität. Vom Mythos des Transports

Zusammenfassung: Der Begriff "Großtechnisches System" wird vorzugsweise für technisch vernetzte Infrastruktursysteme benutzt. Als Kriterien einer Bestimmung dienten bisher die Ausbildung netzwerkartiger Strukturen, eine weite geographische Ausbreitung und erhebliche Kapitalintensität. Eine genauere begriffliche Klärung oder eine hinreichende Theorie konnten noch nicht entwickelt werden. Die Diskussion orientierte sich an historischen Einzelfällen, ohne die funktionalen Besonderheiten der jeweiligen Referenztechniken zu berücksichtigen. Im Rahmen einer Theorie funktionaler Differenzierung werden in diesem Beitrag die klassischen großtechnischen Systeme wie Eisenbahn, Telekommunikation und Stromversorgung untersucht. Dabei werden Kategorien einer funktionalen und technischen Notwendigkeit zur Systembildung unterschieden. An drei Beispielen wird gezeigt, daß dieser Ansatz implizit schon vorhandene, begriffliche Differenzierungen der Theorie großtechnischer Systeme offenzulegen vermag. Die funktionale Perspektive macht außer den bisherigen Vorhersagen eines stetigen Wachstums auch die Möglichkeit einer Dezentralisierung im Funktionsbereich der großtechnischen Systeme sichtbar.

Cristina Besio / Andrea Pronzini:
Die Beobachtung von Theorien und Methoden. Antwort
auf A. Nassehi

Zusammenfassung: Der Aufsatz versucht zu zeigen, daß die epistemologischen Voraussetzungen der Systemtheorie weitreichende Konsequenzen für die empirische Forschung haben, die schon dem Werk Luhmanns zu entnehmen sind. Nach Luhmann kann jeder Beobachter, sei dies in Theorie oder Methode, sich nur auf die Realität beziehen, ohne diese aber als solche erfassen zu können. Es kollabiert also jene Unterscheidung von Theorie/Empirie, die auf beiden Seiten einen privilegierten Zugang zur Realität postuliert. Der operative Konstruktivismus und der damit verbundene Imperativ, operierende beobachtende Systeme zu beobachten, impliziert die Möglichkeit, die von Systemen zur Beobachtung eingesetzten Unterscheidungen zu beobachten. Für Wissenschaft bedeutet dies u.a., die verwendeten Theorien und Methoden zu beobachten und zu bewerten. Theorie und Methode schränken sich gegenseitig ein: Beide sind kontingente Konstruktionen eines Beobachters, da sie sich aufeinander abstimmen müssen, dürfen sie aber nicht beliebig sein. Aus dieser Beobachtung empirischer Systeme der systemtheoretischen Forschung resultieren Erkenntnisse darüber, welche Methoden für die systemische Gesellschaftstheorie tauglich sind. Diese können auf der Ebene der Datenerhebung hauptsächlich im Hinweis gesehen werden, Kommunikation statt Individuen und Unterscheidungen statt Variablen zu beobachten; auf der Ebene der Techniken der Datenanalyse konkretisieren sie sich mit Bezug auf die funktionale Methode.

 

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