Programmatik
Editorial der ersten Ausgabe
Die soziologische Diskussion wird heute durch eine sehr große Zahl
von Unterscheidungen strukturiert, und jeder spezifische Beitrag
zu dieser Diskussion wird dadurch zur Auswahl gezwungen. Er muß
einige dieser Unterscheidungen herausgreifen und andere weglassen
in einem Prozeß, der immer auch anders verlaufen könnte. Jedem
Beitrag liegt insofern ein vereinfachter Zugriff auf die Diskussionslage
des Faches zugrunde, und man kann leicht erkennen, wie als Folge
solcher Vereinfachungen die Komplexität der Gesamtlage anwächst
und zunehmend unübersichtlich wird. Auch eine theoretisch anspruchsvolle
Zeitschrift, die zum Wiedergewinn von Übersicht unter genau diesen
Bedingungen beitragen will, kann daran nichts ändern. Auch ihr Beitrag
muß die Unterscheidungen wählen, von denen er sich bestimmen läßt,
und auch er setzt sich dadurch der Kontingenz und in ihr der Beobachtung
durch andere aus. Umso mehr hängt davon ab, daß es gelingt, die
für sie wichtigen Unterscheidungen so präzise wie möglich zu klären.
Da die für uns wichtigen Unterscheidungen im Namen der Zeitschrift
enthalten sind, kann seine Erläuterung ein Schlüssel zu ihrem Programm
sein. Wir beschränken uns auf fünf Punkte:
[1] Der Titel der Zeitschrift zitiert ein spezifisches Theorieprogramm,
ihr Untertitel macht allgemeinere Ansprüche geltend. Den Hintergrund
dafür gibt eine Lage, in der ein nicht unerheblicher Teil der Diskussion
über soziologische Theorie (im allgemeinen) als Diskussion über
die Theorie sozialer Systeme (im besonderen) geführt wird. Offenbar
ist mit der Systemtheorie ein ebenso spezifischer wie universalistischer
Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen markiert, an dem auch und
gerade die Arbeit an anderen Theorien von ähnlicher Reichweite nicht
einfach vorbeigehen kann. In dieser Situation erscheint es uns sinnvoll,
auch das Programm einer Zeitschrift für soziologische Theorie an
diesen besonderen Ausgangspunkt zu binden. Diese Bindung impliziert
eine gewisse Konzentration auf Systemtheorie, nicht jedoch den Verzicht
auf jede Präsentation von vergleichbaren, aber konkurrierenden Ansätzen
innerhalb der soziologischen Diskussion. In genau diesem Sinne soll
die Zeitschrift "Soziale Systeme" eine Zeitschrift für
soziologische Theorie sein. Sie unternimmt den Versuch, die
Geschlossenheit eines theoretischen Programms mit der eben dadurch
strukturierten Offenheit für grundbegriffliche Alternativen zu kombinieren.
Beiträge solcher Autoren, die an einem Kontrastprogramm zur Systemtheorie
arbeiten, sind dabei umso mehr willkommenen, je deutlicher diese
kritische Beziehung zur Systemtheorie auch in ihnen selbst formuliert
wird. Wir hoffen, daß auf diese Weise ein ebenso diskussionsintensives
wie streitlustiges Forum entsteht, das einen Theoriepluralismus
ohne Ausgewogenheit, aber vielleicht auch ohne die Gefahren der
Sterilität zu praktizieren vermag.

[2] Daß es sich um eine Zeitschrift für soziologische
Theorie handeln soll, impliziert keine Abwertung der empirischen
Forschung und ihrer Ergebnisse. Zwar wollen wir uns bevorzugt um
Beiträge bemühen, die theoriebewußt und unterscheidungsgenau ansetzen.
Aber weder die Flucht in ein Spiel mit Begriffsartefakten, das am
Ende sich selber genügt, noch der ebenso standardisierte wie folgenlose
Protest dagegen würden dem Programm dieser Zeitschrift gerecht.
Die Wissenschaftsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte hat zwar
die Erwartung enttäuscht, wonach Theorie sich mit dem Fortschreiten
der empirischen Forschung wie von selbst einstellen werde. Die Arbeit
an soziologischen Theorien scheint an die Grundform einer Intervention
in verselbständigte Begriffszusammenhänge gebunden, die empirisch
unterbestimmt bleibt. Aber das letzte Kriterium solcher Interventionen
liegt auch für uns in der Frage, zu welcher Art von Erfahrung wir
damit den Zugang gewinnen oder verlieren. Die Auswahl der Beiträge
steht daher unter der doppelten Fragestellung, welche Theoriefolgen
bestimmte Beschreibungen und welche Beschreibungsmöglichkeiten bestimmte
Theorientwicklungen freisetzen. Dahinter steht ein erweitertes Verständnis
von empirischer Forschung, das neben den bereits anerkannten Kategorien
selbstproduzierter Daten auch mit Informationen anderer Art, zum
Beispiel mit gut dokumentierten Begriffsgeschichten, aber auch mit
den nur scheinbar trivialen Selbstverständlichkeiten des Alltags
etwas anfangen kann.
[3] Aus der Konzentration auf die Theorie der sozialen Systeme
ergibt sich zum einen, daß wir den Anspruch dieser Theorie, ein
facheinheitliches Forschungsprogramm anzubieten, an möglichst heterogenen
Gegenstandsfeldern überprüfen und zur Diskussion stellen werden.
So besteht zum Beispiel die Absicht, den bisherigen Schwerpunkt
der Systemtheorie, der allzu eindeutig auf Untersuchungen zur modernen
Gesellschaft lag, sowohl durch die Einbeziehung von Beiträgen zu
älteren Typen von Gesellschaft als auch durch die Einbeziehung von
Beiträgen zu anderen Typen von sozialen Systemen zu erweitern. Neben
den Arbeiten zur Theorie der modernen Gesellschaft und ihrer Vorgängerinnen
sollen daher auch die Soziologie der Organisation und die Soziologie
der Interaktion unter Anwesenden mit eigenen Schwerpunkten stärker
berücksichtigt werden. In der Darstellung und Weiterentwicklung
der hier zuständigen Theorien sehen wir einen wichtigen Teil unserer
redaktionellen Funktion. In diesem Sinne soll die "Zeitschrift
für soziologische Theorie" eine Zeitschrift für soziale
Systeme (und nicht etwa nur für die Gesellschaftstheorie) sein.
Wir hoffen, daß auf diese Weise ein Forum entsteht, das die auch
heute noch vorherrschende Gleichsetzung von allgemeiner Theorie
mit Gesellschaftstheorie auflösen kann, ohne in den komplementären
Irrtum einer Gleichsetzung mit Interaktionstheorie zu verfallen.
[4] Aus der Konzentration auf Systemtheorie ergibt sich
zum anderen, daß wir auch die Systemforschung in anderen Disziplinen
beobachten und über deren Fortschritte berichten werden. Dabei wollen
wir uns vor allem an solche Entdeckungen halten, die in ihrer Bedeutung
für die Erforschung sei es der lebenden, sei es der psychischen
Systeme nicht aufgehen, sondern auf der Ebene einer allgemeinen
Systemtheorie rekonstruiert werden können. Nur in dem Maße nämlich,
in dem eine solche Abstraktionsleistung gelingt, kann auch die Theorie
der sozialen Systeme, und mit ihr vielleicht auch die Soziologie,
aus solchen Entdeckungen lernen. Der Umstand, daß der Systembegriff
(und mit ihm die Begriffe der Evolution ebenso wie der Kognition)
heute in mehr als nur einer Disziplin anwendbar ist, soll also nach
Möglichkeit ausgenutzt werden, um interdisziplinäre Lernprozesse
in Gang zu setzen. Wir hoffen, daß der Anspruch, die soziologische
Theorie so zu schreiben, daß die Kontakte zu anderen Disziplinen
nicht abreißen, auf diese Weise bewährt werden kann. In genau diesem
Sinne soll die "Zeitschrift für soziologische Theorie"
eine systemtheoretische Zeitschrift sein.
[5] Vor allem aber soll es sich um eine Zeitschrift
handeln. Die Betonung muß dabei mehr auf der Zeit als auf der Schrift
und mehr auf der Aktualität möglicher Beiträge als auf ihrer Archivierbarkeit
liegen. Das impliziert einen nicht nur akademischen Bezug auf diese
Aktualität. Es geht uns nicht nur um die Neuerscheinungen der Forschung,
sondern auch auch um das Neue, das in der Gesellschaft selber erscheint.
Wo immer wir den Eindruck gewinnen, daß die Forschung uns über solche
Neuheiten nicht informiert, wollen wir uns daher die Freiheit nehmen,
dem Unbekannten in einer Form zu begegnen, die das Provisorium zu
einem Moment ihrer eigenen Organisation erhebt. Es besteht also
die Absicht, den zeitdiagnostischen Essay zu pflegen. Das Interesse
an dieser Form und an ihren spezifischen Möglichkeiten liegt für
uns in der Konsequenz eines Forschungsprogramms, das nicht nur Wissenschaft,
sondern auch Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, nicht
nur Soziologie, sondern auch, und prägnanter, soziologische Aufklärung
sein will.

|