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Editorial 5 (1999) H.1

 

Editorial 5 (1999) H.1

Der vorliegende Band ist ein Themenschwerpunktheft der Zeitschrift Soziale Systeme. Die Beiträge wurden mit einer Ausnahme auf der Konferenz "Systemtheorie für Wirtschaft und Unternehmen" vorgetragen, die die beiden Herausgeber im Oktober 1998 an der Universität Witten/Herdecke ausgerichtet haben. Die Absicht der Konferenz ebenso wie dieses Bandes zielt darauf, einen Überblick über systemtheoretische Arbeiten im Feld der Wirtschaftstheorie und Unternehmenstheorie zu geben. Wir wissen, daß an sehr vielen Stellen und mit unterschiedlichem Gewicht immer wieder systemtheoretische Überlegungen in volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Problemstellungen einfließen, und wollten herausfinden, welche Erfahrungen dabei gesammelt werden.

Der Band dokumentiert nur einen Teil der Konferenzbeiträge, zeigt jedoch bereits, wie heterogen die Interessenlage ist. Ein erkennbarer roter Faden ist, daß Fragestellungen immer dann fruchtbar werden, wenn sie aus dem dezidierten Einsatz der Differenz einer disziplinären Problemstellung einerseits und der systemtheoretischen Perspektivierung dieser Fragestellung andererseits gewonnen werden. Die Systemtheorie wird als eine Technik des Verschiebens von Fragestellungen verstanden, weniger als ein Satz von Prämissen, den man munter auf irgendeinen Gegenstand freier Wahl anwendet. Daher sind alle Beiträge, die hier gesammelt sind, deutlich an ihrer Herkunft aus der Betriebswirtschaftslehre, Verwaltungswissenschaft, Volkswirtschaftslehre, Psychotherapie und Soziologie erkennbar. Das ist die erste gute Nachricht: Man kann sehen, daß mit der Systemtheorie experimentiert wird. Sie findet Interesse, weil sie dazu anregt, Gegenstandskonstruktionen von den beiden Seiten des Gegenstands und der Konstruktion her in Frage zu stellen und Alternativen zu erarbeiten.

Die zweite gute Nachricht ist, daß die Beiträge durchweg durch die Perspektive ihrer Autoren geprägt sind. Das muß man angesichts einer Theorie, die oft wegen ihrer strengen Abstraktion von den Idiosynkrasien ihrer Autoren gerügt, zuweilen auch gepriesen wird, eigens hervorheben. Schon die Diskussion auf der Konferenz hat gezeigt, daß jeder der Autoren bei jedem Thema eigenwillige Akzentsetzungen verfolgt, die je nachdem zu wissenschaftlicher Auseinandersetzung oder auch zu künstlerischer Anerkennung führen. Obwohl keiner der Autoren dazu neigen würde, zu behaupten, daß es beliebig ist, wo der Schnitt von System und Umwelt angebracht wird, ist doch sofort im Anschluß an die Wahl des Schnitts wieder sehr Vieles und sehr Unterschiedliches möglich. Damit ist die Systemtheorie nicht nur ein Experiment der Problemverschiebung, sondern zugleich auch ein Projekt, das von dem Autor lebt, der sich dieses Projekt zu eigen macht.

Wir verzichten darauf, die einzelnen Beiträge innerhalb einer Theorie der Wirtschaft und einer Theorie des Unternehmens zu kontextuieren. Dafür bleiben nach wie vor viel zu viele Fragen offen. David Borger zeigt, daß der wissenschaftlich zugespitzte, aber nicht zu entscheidende gesellschaftliche Streit darüber, was unter einem Unternehmen zu verstehen ist, sich bis in die Einzelheiten scheinbar so technischer Fragen wie denen des Rechnungswesens verfolgen läßt. Jeder einzelne Posten des Rechnungswesens spiegelt die Geschichte der Ausdifferenzierung des Unternehmens und schränkt die Möglichkeiten ein, die das Rechnungswesen nutzen kann, um mit neuen Problemstellungen umzugehen. Michael Hutter führt vor, daß die funktionale Ausdifferenzierung der Wirtschaft eine gesellschaftlich akzeptierte Semantik von Knappheit und Überfluß voraussetzt, die von der Wirtschaft auf den unterschiedlichen Ebenen des Güter- und des Geldkreislaufs überhaupt erst einmal in Szene gesetzt werden muß. Nichts daran versteht sich von selbst; alles daran ist historisch kontingent. Angelika Menne-Haritz greift die Analyse der schriftlichen Aktenführung dort wieder auf, wo Max Weber stehen geblieben ist, und zeigt mit den Mitteln der modernen Organisationstheorie und auf der Grundlage eigener Forschung, wie der Schließungsmechanismus der Bürokratie funktioniert. Sie warnt vor übereilter Bürokratiekritik ebenso wie davor, die Interdependenz von Schließung und Öffnung zu unterschätzen, wenn man glaubt, auf elektronischer Basis die Bürokratie zu transparenten Verfahren rationalisieren zu können.

Fritz Simon beschreibt die Familie als das soziale System, das einen Sinn hat für das Aufwachsen und Sterben von Menschen. Alle anderen sozialen Systeme, ganz besonders aber Organisationen, setzen den erwachsenen und voll urteilsfähigen Menschen voraus und schneiden sich damit von der ökologischen Wirklichkeit des Menschen ab. Deswegen ergeben sich besondere Kompatibilitätsprobleme, wenn in ein und demselben System, hier Familienunternehmen, sich ausschließende Problemstellungen bearbeitet werden müssen. Rudolf Stichweh stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, daß multinationale Unternehmen fast alle ihre Aktivitäten internationalisieren, den Bereich von Forschung & Entwicklung jedoch weitgehend im Herkunftsland belassen. Die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten, wirft jedoch ein bezeichnendes Licht auf die vertrackten Beziehungen zwischen den Globalisierungsstrategien der Industrie und der Globalisierungspraxis der akademischen Forschung. Gunther Teubner greift das Stichwort der "Produktionsregimes" auf, das in der neueren Kapitalismustheorie diskutiert wird, und zeigt, daß man diese Regime nicht als eigene Systeme, sondern als ultrazyklische Verkettungen von Funktionssystemen und Organisationssystemen verstehen kann, die als Selektions- und Inhibitionsinstanzen im Prozeß der Koevolution dieser Systeme fungieren. Ein "Regime" dirigiert also nicht, sondern es schränkt ein, was möglich ist. Es versorgt eine zukunftsorientierte Wirtschaft mit Gedächtnis und Vergangenheit.

Niklas Luhmann hat die Wirtschaftstheorie der Ökonomen gerne als "Reflexionstheorie" der Wirtschaft bezeichnet und damit darauf hinweisen wollen, daß die ökonomische Theorie Konstitutionsentscheidungen des Wirtschaftssystems (monetäre Ausdifferenzierung, rationale Entscheidung) übernimmt, ohne sie in Frage stellen zu können. Veronika Tacke greift dieses Stichwort in ihrem Beitrag auf und führt Luhmanns Analyse für die beiden aktuellen Fälle der Organisationstheorie einerseits und diverser Neoinstitutionalismen andererseits weiter. Sie zeigt, daß diese beiden Theorien sich darin ergänzen, daß sie beide keinen Begriff für die Differenz von Funktionssystem (Wirtschaft) und Organisationssystem (Unternehmen) haben, aber die beiden unterschiedlichen Seiten dieser Differenz beleuchten. Man braucht die Systemtheorie, um beide Seiten der Differenz in ihrer Abhängigkeit voneinander und in ihrer Konstitution durch die Operation der Differenz sehen zu können. Gerd Walger und Franz Schencking verwenden die Systemtheorie, um auf einen blinden Fleck der Betriebswirtschaftslehre aufmerksam zu machen. Sobald die Betriebswirtschaftslehre den Versuch macht, eine Produktionskostentheorie der Dienstleistung zu entwickeln, wird deutlich, daß sie einen Produktionsbegriff hat, der die Verfügbarkeit aller Produktionsfaktoren in der Disposition des Unternehmens voraussetzt. Das ist ein technischer Produktionsbegriff, der auf Schließung abstellt und somit dem Phänomen, das an der Produktion einer Dienstleistung der Kunde systematisch beteiligt ist, ohne deswegen zum Mitglied der Organisation gemacht werden zu können, nicht gerecht wird. Rudi Wimmer schließlich greift eines der systemtheoretischen Basiskonzepte, das Konzept der nicht-trivialen, strukturdeterminierten Systeme auf, um die gängige Überschätzung der Möglichkeit, Organisationen auf der Grundlage der Organisation dieser Organisationen verändern zu können, einer konsequenten Kritik zu unterziehen. Jede Organisation ist als eine unwahrscheinliche Differenzsetzung zu verstehen, die vielfache und unverfügbare Prozesse der Ausdifferenzierung und Wiedereinbettung voraussetzt. Eine Veränderung einer Organisation ist daher immer nur als Selbstveränderung zu verstehen und die Frage für die Führung, aber auch die Beratung einer Organisation ist, mit welchem Überraschungsmanagement eine solche Veränderung "angeregt" werden kann.

Aus Platzgründen verschieben wir den Beitrag von Dirk Baecker über die Preisbildung an der Börse in das nächste Heft. Die Diskussion soll fortgesetzt werden. Die Zeitschrift lädt ein, weitere Beiträge zum Themenkreis der Wirtschaft und des Unternehmens einzureichen. Wir möchten an dieser Stelle der Fritz Thyssen Stiftung für ihre Förderung der Konferenz und allen Beiträgern, auch denen, die hier nicht abgedruckt wurden, und Diskutanten für ihre Teilnahme danken. 

Berlin und Köln, im März 1999

 

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