Es wurde mit Erfolg behauptet, daß alle biologischen (lebenden)
Systeme autopoietische Systeme sind. Mit geringerem Erfolg wurde
die umgekehrte These vertreten, daß alle autopoietischen Systeme
biologische (lebende) Systeme seien. Kürzliche Fortschritte auf
den Gebieten des "Artificial Life, der synthetischen
Biologie und der osmotischen Wachstumsprozesse haben aber gezeigt,
daß zumindest einige autopoietische Systeme nichtbiologisch sind:
d.h. autonom und selbstproduzierend in einem physikalischen, anorganischen
Milieu. Das Phänomen Leben ist einer spezifischen Organisation der
Materie zuzurechnen, nicht einer besonderen (e.g. organischen) Materie.
Weiterhin existiert eine ausführliche Diskussion darüber, ob soziale
Systeme (diejenigen, die spontan geordnet und nicht vom Menschen
entworfen sind) autopoietische Systeme sind.
Dieser Essay behauptet, daß die Frage der Autopoiesis spontaner
sozialer Systeme irrelevant ist: Nicht nur, daß spontane soziale
Systeme autopoietisch sein müssen, sondern die Umkehrung dieser
Relation gilt noch bestimmter: Alle autopoietischen und also alle
biologischen (lebenden) Systeme müssen soziale Systeme sein.
Diese These impliziert nicht, daß alle sozialen Systeme autopoietisch
sind; es gibt viele vom Menschen entworfene und gemachte heteropoietische
"Wunder des sozialen "engineering, die weder
autonom noch selbstproduzierend oder selbsterhaltend sind. Aber
alle autopoietischen Systeme, die organischen und die anorganischen,
müssen notwendigerweise soziale sein (Gesellschaften, Populationen,
Kommunitäten).
Es ist nicht wichtig anzumerken, daß einige (d.h. spontane) Sozialsysteme
autopoietisch sind; entscheidend ist, daß alle lebenden Systeme
(und alle ihre lebenden Subsysteme) Gesellschaften sind und als
solche untersucht werden müssen.
Peter Fuchs / Dietrich Schneider:
Das Hauptmann-von-Köpenik-Syndrom. Überlegungen zur Zukunft funktionaler
Differenzierung
Die moderne Gesellschaft nutzt eine Form der Differenzierung, die
als funktionale Differenzierung beschrieben werden kann. Dieser
Differenzierungstyp erzeugt in der Weltgesellschaft autonome, selbstreferentielle
Funktionssysteme (Recht, Wissenschaft, Kunst, Religion, Erziehung
etc.) Die Frage ist, ob diese Form sich unter der Bedingung selbstgeschaffener,
selbstinduzierter Probleme möglicherweise verändert. Die zentrale
Argumentation läuft darauf hinaus, daß funktionale Differenzierung
(unter dem Druck selbstinduzierter Probleme) Systeme aus "zweiter
Hand" entwickeln kann, die dieselbe Form realisieren wie die
Systeme "erster Hand", aber mit sehr verschiedenen Konsequenzen.
Dieser neue Systemtyp emergiert als Reaktion auf jene Probleme.
Das System sozialer Arbeit wird diskutiert als ein Beispiel für
den Versuch einer gesellschaftsweiten Lösung.
Elena Esposito:
Interaktion, Interaktivität und Personalisierung der Massenmedien
Der Beitrag diskutiert die verbreitete Vorstellung, daß die neuen
Mittel der Telematik zu einer Form der Personalisierung der Massenmedien
führen werden. Der Schlüssel dieser Entwicklung wäre die vom Computer
ermöglichte Interaktivität, die den Benutzer dazu bringen würde,
eine aktive Rolle zu übernehmen. Der Artikel wiederspricht dieser
Behauptung durch eine Analyse erstens der auf der Basis von Fernkommunikation
(Druckpresse) gegebenen Personalisierungsmöglichkeiten und zweitens
der grundlegenden Funktion der Generalisierung der Kommunikation
durch Massenmedien. Unter diesen Gesichtspunkten würde eine Kommunikation,
die für jeden Benutzer eine spezifisch verschiedene Kommunikation
ist, zu einer neuen Form von Isolierung statt zu Partizipation führen.
Die Neuartigkeit der Telematik sollte demgegenüber eher in den Formen
gesehen werden, die es erlauben, auf individuelle Weise eine unpersönliche
Kommunikation zu gestalten.
Nicolas Hayoz:
Dédifférenciations régionales et différences fonctionelles universelles.
Aspects de l'instrumentalisation politique de domaines fonctionnels
au sein de la "société organisée" du socialisme soviétique
Die Gleichsetzung von Staaten oder Nationen mit Gesellschaften
führt zu einer "Regionalisierung des Schemas der funktionalen
Differenzierung. Eine solche Annahme verwechselt die kommunikative
und universelle Realität von Funktionssystemen mit länderspezifischen
Gegebenheiten. Wenn man die Logik der funktionalen Differenzierung
im Sinne Niklas Luhmanns ernst nimmt, verhält es sich gerade umgekehrt.
Mehr oder weniger "modernisierte Länder sind funktional
nicht mehr oder weniger "differenziert, sondern setzen
funktionale Differenzierung und damit die moderne Gesellschaft voraus.
- Es ist daher nicht richtig anzunehmen, in der ehemaligen UdSSR
hätte die sozialistische Modernisierung die funktionale Differenzierung
"ersetzt. Gerade weil es moderne Wissenschaft, Erziehung,
Kunst, Wirtschaft usw. gibt, kann ein totalitäres Regime versuchen,
deren Organisationen und Professionen "politisch zu beeinflussen:
Entdifferenzierung als politisch organisierte Deprofessionalisierung.
Die "andere Moderne des sowjetischen Sozialismus ist
ein "Antikapitalismus, der Organisation einsetzen musste,
um sich als "sozialistische Gesellschaft ausflaggen zu
können. Gegen die künstlichen Differenzen einer solchen Formation
haben die emigrierte und später die dissidente Intelligenz, schliesslich
aber auch grösser werdende Teile der nicht-dissidenten Intelligentsia
die Normalität einer autonomen, von der Politik nicht bevormundeten
professionellen Tätigkeit und von Öffentlichkeit eingefordert.
Helmut Willke:
Transformation der Demokratie als Steuerungsmodell hochkomplexer
Gesellschaften
Der Text will die Annahme prüfen, daß nach dem Verblassen der Ost-West-Konfrontation
Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften ihre unangreifbare
Position verlorgen hat und nun vor allem einer Überprüfung ihrer
Steuerungskapazität ausgesetzt ist. Ausgelöst ist diese kritische
Befragung der Demokratie durch eine Reihe von Steuerungsproblemen,
mit denen sich moderne Gesellschaften durch veränderte globale Kontexte
konfrontiert sehen:
1. Die Herausforderung der Politik bezeichnet eine Verschiebung
in der Machtbalance gesellschaftlicher Teilsysteme zulasten der
Politik mit der Folge, daß politische Strategien die angezielten
nationalen und internationalen Probleme nicht erreichen.
2. Die Herausforderung des Marktes wird zum Problem von Demokratie,
weil die Marktlogik global operiert, während politische Entscheidungen
nur territorial begrenzte Reichweite und Legitimität beanspruchen
können.
3. Die Herausforderung der Hierarchie manifestiert sich in
der Suboptimalität einer hierarchischen Architektur lokaler und
globaler Problemlösungsmodelle. Demokratie als Form gerät in die
Linie der Kritik, weil sie sowohl in ihren Innen- wie in ihren Außenbeziehungen
eng mit Hierarchie verzahnt ist.
Die Argumentation des Aufsatzes schließt auch die mit den Steuerungsproblemen
verbundenen Risiken ein und deutet am Ende eine mögliche Richtung
der Entwicklung von Demokratie als Koordinationsform hochkomplexer
Systeme an.
Wil Martens:
Die Selbigkeit des Differenten. Über die Erzeugung und Beschreibung
sozialer Einheiten
Die soziologische Theorie Luhmanns kann man interpretieren als
einen Versuch, für den Bereich des Sozialen die Fragen zu beantworten:
Wie unterscheiden sich soziale Einheiten, und wie können sie als
besondere Einheiten dasein'? Die Theorie formuliert eine Antwort
in der Differenz, Identität und Selbstbeziehung, Schlüsselbegriffe
sind. Die Ausführung des Programms geht aber von falschen Prämissen
aus.Das gilt vor allem die Begriffe des Unterscheidens und der Paradoxie.
Auf ihrer Grundlage bleiben die Art und die Erzeugung der Einheit
sozialer Systeme, u.a. der Gesellschaft, unbegriffen. In diesem
Aufsatz werden alternative Bestimmungen der Begriffe Unterschied,
Einheit und Paradox vorgeschlagen. Mit ihrer Hilfe wird dann versucht,
soziale Systeme als Einheiten des Unterschiedenen, die sich aus
verschiedenartig orientierten Handlungen und Kommunikationen konstituieren,
zu begreifen. Das ist die Basis für eine Beschreibung ausdifferenzierter
Gesellschaften, in der Organisationen und Teilsysteme der Gesellschaft
als Einheiten zwar orientiert sind an einer dominanten Unterscheidung,
aber auch andere Unterscheidungen verwenden (können). Als Folge
ihrer inneren Diversität können sie Aufmerksamkeit für verschiedene
Gesellschaftsprobleme entwickeln.
Harald Wasser:
Psychoanalyse als Theorie autopoietischer Systeme
Der Artikel vertritt die These, daß es möglich ist, die Freudsche
Psychoanalyse als systemtheoretische Psychologie zu rekonstruieren.
Im Vordergrund steht dabei der Versuch, psychische Systeme als codierte,
in Teilsysteme differenzierte Systeme zu verstehen. Die Freudsche
Unterscheidung bewußt/unbewußt ist allerdings nur dann kompatibel
mit dieser Theorie der Codierung, wenn man sich von der Vorstellung
trennt, psychische Systeme seien über den Operationsmodus "Bewußtsein
geschlossen.
Talcott Parsons:
The Articulation of the Personality and the Social Action System.
Freud and Max Weber
Der Essay vergleicht die Analyse sozialen Handelns, wie sie sich
unter anderem bei Max Weber findet, mit der Freudschen Persönlichkeitstheorie.
Im Vordergrund steht die Frage der Instabilität in Systemen und
die Suche nach rationalen Mechanismen der Kontrolle von Instabilitäten.
Im Fall ökonomischen/sozialen Handelns bildet offensichtlich die
zweckrationale Interessenverfolgung ein solches Moment der Instabilität,
das durch gesellschaftlich institutionalisierte Werte und Normen
kontrolliert wird. Dem entspricht im psychischen System die Interrelation
von Ich (als einem sich durch Informationen, die es der Umwelt entnimmt,
beeinflussen lassenden System) und Überich als einer Kontrollinstanz
auf der Basis internalisierter Normen und Werte. In beiden Systemen
gibt es nun eine dritte Instanz, die sowohl erneute Quelle von Instabilitäten
wie aber vielleicht auch von Innovationen ist. Als eine solche sieht
Parsons das durch Wünsche bestimmte Es in der Freudianischen Analyse,
dem er den Charismabegriff Max Webers als ein auf der Ebene des
Sozialsystems angesiedeltes Analogon gegenüberstellt.
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