Niklas Luhmann:
Die Sinnform Religion
Der Beitrag beschreibt Religion als Lösung eines Problems, das
mit jedem Gebrauch von Sinn auftritt. Dabei geht es nicht um Hilfe
bei einer Sinnfindung oder um Rat, wie man ein sinnvolles Leben
führen könne. Sinn ist ein Medium, das psychische und soziale Systeme
benutzen, um sinnvolle Formen wie zum Beispiel Objekte, Symbole,
Sätze zu erzeugen. Aber Sinn selbst ist keine sinnvolle Form. Es
ist ein unbeobachtbares Medium, das bei jedem Gebrauch von Formen
als die "andere Seite" dieser Formen miterzeugt wird.
Es verlangt eine kontinuierliche Produktion und Reproduktion von
Formen, läßt dabei aber zugleich einen unmarkierten Raum entstehen
als Bedingung dafür, daß Formen überhaupt unterschieden werden können.
Religion hat die einzigartige Funktion, den Umgang mit diesem Problem
einer selbsterzeugten Unbestimmtheit zu regulieren, für den die
normalen Operationen der Systeme nicht ausreichen. Das kann durch
Gebrauch paradoxer Formen der Kommunikation geschehen oder durch
Annahme des Todes des Lebens trotz einer unbekannten anderen Seite
dieser Form und nicht zuletzt auch durch Unterscheidung von Glaubenden
und Nichtglaubenden mit Bezug auf bestimmte dogmatisch fixierte
Formen.
Wolfgang Fritscher:
Romantische Beobachtungen. Niklas Luhmanns soziologische Aufklärung
als moderne soziologische Romantik
Niklas Luhmanns Systemtheorie der Moderne gilt wegen ihres fehlenden
normativen Fundaments als Antipode kritischer Aufklärung. Richtig
ist, daß seine soziologische Aufklärung genau besehen
eine soziologische Romantik ist. Sie steht in spezifischer Weise
auf der anderen Seite der Aufklärung. Eine normativ gestützte kritische
Aufklärung und eine noch die letzte Stütze reflexiv relativierende
Romantik sind die zwei Seiten einer Form, der Moderne. Die jeweils
andere Seite ist nur über ein Re-entry der Form verfügbar. Soziologisches
Aufklären durch Beobachten entstammt dem Erbe romantischer Ironie
und ist konstituiert über ein Re-entry der Unterscheidung Aufklärung/Romantik
auf der Seite der Romantik.
Michael King:
Managerialism versus Virtue. The Phoney War for the Soul of Social
Work
Der Einzug des Managementdenkens in die Sozialarbeit hat bei vielen
Sozialarbeitern die Befürchtung geweckt, daß die Sozialarbeit ihre
"Seele" verlieren könne. Diese Befürchtung ist unbegründet,
weil die Sozialarbeit nie eine Seele hatte. Die Sozialarbeit hatte
sich zwar ausdifferenziert, indem sie wohlgemeinte Absichten pflegte,
aber sie hat eine Reflexion auf nicht-intendierte Effekte vermieden,
bis sie von Skandalen um Kindesmißhandlungen dazu gezwungen wurde.
Der Artikel beschreibt die Bedeutung dieser Skandale für die Entstehung
der caring professions in England. Professionalisierung war ein
erster Schritt zur Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der
sozialen Hilfe, das auf der Unterscheidung von Intervention und
Nichtintervention beruht. Mithilfe dieser Unterscheidung transformiert
das System das Rauschen der Problemfälle der Gesellschaft in Anlässe
für eigene Operationen. Der Erfolg der Ausdifferenzierung führte
heute zu der Fehleinschätzung, daß dieselbe Funktion auch mit im
Sinne des "managerialism" effizienteren Methoden erreicht
werden könne. Dabei wird als Kausalwissen interpretiert, was tatsächlich
nur eine gesellschaftlich etablierte Interventionspraxis ist. Die
Sensibilität dieser Praxis gegenüber dem Rauschen, auf das sie reagiert,
wird dabei unterschätzt. Die Diskussion des "managerialism"
würde davon profitieren, wenn man ihr eine Beschreibung der Ausdifferenzierungstypik
des Funktionssystems der sozialen Hilfe zugrundelegen würde.
Rudolf Stichweh:
Variationsmechanismen im Wissenschaftssystem der Moderne
Der Aufsatz versucht die Frage nach den Mechanismen der Entstehung
von Neuheit im Wissenschaftssystem der Moderne mit Hilfe evolutionstheoretischer
Denkmittel zu beantworten. Dabei wird Evolutionstheorie als eine
generelle Theorie verstanden, die in der Anwendung auf Kommunikationssysteme
oder Systeme des Informationstransfers spezifiziert werden kann.
Nach einer Skizze der frühneuzeitlichen Situation mit ihrem dominanten
Interesse an Ordnung und Stabilität des Wissens werden drei evolutionäre
Mechanismen, die für die Moderne charakteristisch sind, herausgearbeitet.
Die wissenschaftliche Publikation als Mechanismus der Variation
auf der Ebene des globalen Wissenschaftssystems wird auf die komplexe
Vielfalt ihr vorgeschalteter interner und struktureller Selektoren
bezogen, die vielfach den Eindruck erzeugen, daß die wissenschaftliche
Publikation eine rationale Anpassung an eine kommunikative Selektionsumwelt
verkörpert. Der binäre Wahrheitscode des Wissenschaftssystems wird
als Mechanismus der Selektion identifiziert und seinerseits auf
Theorien und Methoden als Instanzen einer im Selektionsmechanismus
erfolgenden Repräsentation von Stabilisierungsbedarfen bezogen.
Schließlich geht es um interne Differenzierung oder Disziplinbildung
als dem Stabilisierungsmechanismus der Wissenschaft, der seinerseits
Variationsanlässe vorstrukturiert. In einer disziplinär differenzierten
Wissenschaft wird interdisziplinärer Kontakt als eine Möglichkeit
revolutionärer Innovation wahrscheinlich, und dem entspricht die
Ausdifferenzierung innovativer Gruppen, die Diskontinuitäten oder
Malthusianische Instabilitäten in die Evolution der Wissenschaft
einführen.
Raimund Hasse / Georg Krücken:
Was leistet der organisationssoziologische Neo-Institutionalismus?
Eine theoretische Auseinandersetzung mit besonderer Berücksichtigung
des wissenschaftlichen Wandels
Der organisationssoziologische Neo-Institutionalismus präsentiert
eine Alternative zu gegenwärtigen Theorieangeboten in der Soziologie,
die weit über den Bereich der Organisationssoziologie hinausgeht.
Sein theoretisches Innovationspotential verdankt sich zwei grundlegenden
Vorzügen der Organisationsforschung: empirische Fundierung und kontinuierlicher
interdisziplinärer Erkenntnisfortschritt. Gegenüber anderen Organisationstheorien
zeichnet den Neo-Institutionalismus die Einbeziehung über die Organisation
hinausreichender gesellschaftlicher Erwartungsstrukturen aus. Gegenüber
dem klassischen Institutionalismus in der allgemeinen Soziologie
werden konstruktivistische Einsichten der Organisationsforschung
berücksichtigt: Soziales Handeln entsteht nicht durch die Übernahme
und Ausführung extern vorgegebener Normen, sondern durch den aktiven
Umgang mit vielfältigen und widersprüchlichen Umwelterwartungen.
Auf dieser Grundlage läßt sich ein Modell sozialen Wandels entwickeln,
das nicht nur auf die Organisationsebene beschränkt ist und dessen
analytischer Gehalt anhand gegenwärtiger Entwicklungen in der Wissenschaft
dargestellt wird.
Peter Fuchs:
Die archaische Second-Order Society. Paralipomena zur Konstruktion
der Grenze der Gesellschaft
Frühe Gesellschaften werden normalerweise als soziale Systeme mit
unklaren (breiten) Grenzen betrachtet. Die Vermutung dabei ist,
daß sie auf der Form der face-to-face-interaction beruhen. Dieser
Aufsatz kann als ein Versuch begriffen werden zu zeigen, (1) daß
frühe Gesellschaften fähig sind, beliebige Weltereignisse als Effekte
unsichtbarer Selbstreferenz zu begreifen, (2) daß dies der Grund
für die Entwicklung einer besonderen Art von Beobachtung zweiter
Ordnung ist und (3), daß frühe Gesellschaften deshalb in die soziale
Welt preadaptive advances eingeführt haben, die für spätere Gesellschaften
außerordentlich bedeutsam waren, insbesondere für die Evolution,
die sich auf Schrift bezieht.
Jürgen Kaube:
Rationales Handeln - Probleme seiner Theorie
Der Beitrag diskutiert zwei jüngere Versuche einer allgemeinen
Sozialtheorie, die auf der Grundlage von Modellen rationalen Handelns
entwickelt werden soll. Zentral ist dabei die Frage, ob es sich
bei der Annahme rationaler Wahl um eine bloß methodische Abstraktion
handelt, oder ob eine tatsächliche "Erklärung" von Handlungen
beabsichtigt ist. Die beträchtliche Ambivalenz der vorliegenden
Texte in diesem Punkt teilt sich auch ihrer Stellung zum ökonomischen
Handlungsmodell mit. Begriffe wie "Tausch" und "Rationalität"
schwanken zwischen beschreibender, erklärender und rein analytisch-instrumenteller
Funktion. Rational-Choice-Theorien der vorliegender Machart zeigen
zumeist nur, daß sich soziale Sachverhalte als Resultat rationalen
Handelns darstellen lassen, nicht, daß sie tatsächlich aus solchem
Handeln hervorgehen.
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