Der Artikel untersucht am Beispiel der modernen Religionen die
fast paradoxe Beziehung zwischen Systemisierung und Antisystemisierung
in der funktional differenzierten Weltgesellschaft. Die Kritik der
Religionen an den typischen Folgeproblemen dieser Gesellschaft ist
symptomatisch dafür, daß gerade in diesem Bereich eine Spannung
herrscht zwischen Systemisierung und Anti- oder Nicht-Systemisierung.
Die Religion besitzt eine Art "Wahlverwandtschaft" mit
den Folgeproblemen der modernen Gesellschaft, und zwar aus zwei
Gründen. Zum einen finden diese Probleme einen Widerhall in den
Schwierigkeiten, Religion als ein funktionales System unter anderen
zu konstruieren, und zum andern wegen der holistischen Perspektive
der differenzierten Religion überhaupt. Die Probleme, die uns als
charakteristische Folgen der Dominanz spezialisierter Technik erscheinen,
verweisen auf die Ambivalenz, die sich aus der Umstrukturierung
der Religion in eine spezialisierte Technik ergeben, und auf die
Schwierigkeit, in der heutigen Gesellschaft diese Folgeprobleme
auf einer anderen Basis als der technisch-funktionalen zu bewältigen.
Dietrich Schwanitz:
Der Antisemitismus oder die Paradoxierung der Außengrenze
Die Tatsache, daß der Motivkomplex der antisemitischen Beschuldigungen,
der in den spätmittelalterlichen Judenverfolgungen entsteht, den
Wechsel vom religiösen zum rassistischen Antisemitismus praktisch
unverändert überdauert, stellt Dirk Richters neuerlich vertretene
These vom Antisemitismus als Verlängerung des Nationalismus in Frage.
Indem sie sich auf das semantische Material konzentriert, benutzt
die vorliegende Untersuchung Shakespeares Kaufmann von Venedig,
um das Konzept des Szenarios als einer Form dramatischer Selbststabilisierung
einzuführen und die antisemitischen Anklagen Wucher, Hostienschändung,
Ritualmord, Brunnenvergiftung und Verschwörung mit dem Teufel, die
Weltherrschaft zu erobern als Verletzung des Selbstbefriedigungsverbots
der Mediencodes zu rekonstruieren. Die Persistenz des Shakespeare-Szenarios
im 19. Jahrhundert verbindet dies mit einer Form gesellschaftlicher
Selbstbeobachtung, die sich der Differenz Bourgoisie/Adel bedient,
und führt zu der Folgerung, daß der Antisemitismus nicht aus der
Verschärfung der Zwei-Seiten-Form Nation" zu verstehen
ist, sondern als Reaktion auf die Paradoxierung aller kulturellen
Differenzierungen, seien sie national, religiös, sozial oder subsystemisch-spezifisch.
William Rasch:
The Limit of Modernity: Luhmann and Lyotard on Exclusion
Der Aufsatz geht der Frage nach, wie in den Theorien Luhmanns und
Lyotards Exklusion auf eine deskriptive (logische) sowie auf eine
präskriptive (moralische/politische) Weise gedacht wird. In der
Auseinandersetzung mit den beiden Autoren wird die Antinomie zwischen
der theoretischen und der praktischen Vernunft nicht aufgehoben,
sondern beibehalten. Der Aufsatz weist aber auch auf neuere Arbeiten
beider Autoren hin, um die Frage aufzuwerfen, ob es möglich ist,
die Grenze der Moderne (der funktionalen Differenzierung) zu denken,
ohne eine utopische Alternative setzen zu müssen.
Hans Bernhard Schmid:
Europa" und die Weltgesellschaft". Zur systemtheoretischen
Kritik der transzendentalen Phänomenologie
Der Vermutung, daß das Verhältnis der Systemtheorie zur Subjektphilosophie"
komplexer strukturiert sein könnte, als es der von Luh-mann verkündete
Abschied von Alteuropa" einer-seits, der von Kritikern
ge-äußerte Vorwurf die Systemtheorie durch und durch bestimmender
subjektphilosophischer Erblasten" andererseits suggerieren,
wird hier anhand des Verhältnisses der Luhmannschen Systemtheorie
zu Husserls transzen-den-taler Phänomenologie nachgegangen. Von
der Luhmannschen Diagnose des Scheiterns" der Subjektphilosophie
in Husserls Ringen mit dem Problem der Intersub-jektivität zur systemtheorieeigenen
Bestimmung des Intersystemver-hältnisses übergehend, werden die
der Subjektphilosophie entstammenden kategorialen Bestimmungsstücke
des systemtheoretischen Gesellschaftsbegriffes gesammelt. Anschließend
wird das in der Systemtheorie in jüngerer Zeit in Mode gekommene
Thema der Exklusion" aufgegriffen und der Vorschlag gemacht,
aus ihm Konsequenzen entweder hinsichtlich der der Subjektphilosophie
abgewonnene systemtheoretische Begrifflichkeit, oder aber hinsichtlich
der Verhältnisbestimmung von Subjektphilosophie und Systemtheorie
zu ziehen.
Klaus P. Japp:
Die Beobachtung von Nichtwissen
In dem Aufsatz wird versucht, die Unterscheidung zwischen spezifischem
und unspezifischem Nichtwissen für die Thematisierung von Wissensformen
zu nutzen, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnis, auf Risiko
und auf die Kategorie der Katastrophe beziehen. Unspezifisches Nichtwissen
wird als unmarked space der Wissensgenerierung behandelt und mit
kategorischen Imperativen der Katastrophenvermeidung in Zusammenhang
gebracht. Im Unterschied zum Risikofall und zu dem wissenschaftlicher
Erkenntnis werden Katastrophen als Ergebnis kompletter
Negation von Wissensbeständen eingeführt. Die Kommunikation von
Katastrophen folgt also nicht externen Sachverhalten, sondern der
von Katastrophenschwellen abhängigen Operation der Zurückweisung
von Wissensansprüchen. Dieses Argument wendet sich gegen den realistischen
Begriff von Nichtwissen eines halbierten Konstruktivismus
und zieht daraus Konsequenzen für die Selbstbeschreibung moderner
Gesellschaften.
Gunther Teubner :
Im blinden Fleck der Systeme: Die Hybridisierung des Vertrages
Was sind die Folgen funktionaler Differenzierung für die Institution
des Vertrages? Insofern die traditionelle Einheit des Vertrages
sich in eine Vielzahl von systemspezifischen Handlungsketten (wirtschaftliche
Transaktion, Rechtsversprechen, produktive Vereinbarung) aufgelöst
hat, wird es notwendig, die Bindungskraft des Vertrages von einer
interpersonalen auf eine intersystemische Beziehung umzustellen.
These des Beitrages ist es, daß sich die so gefaßte Einheit des
Vertrages im blinden Fleck der Unterscheidungen von System und Umwelt
befindet und nur einer Analyse zugänglich ist, die supplementär
zur Systemtheorie genau diesen blinden Fleck ausleuchtet.
Hans-Joachim Giegel:
Moral und funktionale Differenzierung
Angesichts gravierender Folgeprobleme, die funktional ausdifferenzierte
Subsysteme aufgrund ihrer spezifischen Operationsweise hervorrufen,
ist zu fragen, inwieweit es auf der Basis moralischer Kommunikation
nicht nur möglich ist, diese Probleme zu thematisieren, sondern
auch die Suche nach angemessenen Problemlösungen zu befördern. Eine
überzeugende Geltung gewinnt moralische Kommunikation aber zunächst
nur in einem eng begrenzten Bereich alltäglicher Erfahrungen. Dem
Versuch, Moral auf komplexere soziale Zusammenhänge zu beziehen,
stellen sich hingegen spezifische Schwierigkeiten entgegen. Moralische
Orientierungen werden leicht ausgebeutet, haben mit Synthetisierungsproblemen
zu kämpfen, sind kaum in der Lage, sich auf Sachprobleme mit hoher
Komplexität angemessen zu beziehen und lassen sich nur schwer mit
den Operationen funktional differenzierter Teilsysteme zusammenführen.
Beim Übergang in Bereiche mit komplexen Problemstellungen können
aber spezifische Zusatzeinrichtungen helfen, eine angemessene Operation
moralischer Kommunikation zu sichern. Anders als Systemtheoretiker
annehmen, ist die Bedeutung moralischer Kommunikation nicht davon
abhängig, daß diese sich als ein eigenes funktional spezifiziertes
Subsystem ausdifferenziert. Bei alldem bleibt Moral riskant
aber damit teilt sie nur die Riskantheit anderer Formen gesellschaftlicher
Kommunikation.
Jürgen Fohrmann:
Gesellige Kommunikation um 1800. Skizze einer Form
Der Beitrag verfolgt den um 1800 beobachtbaren Versuch, die sich
abzeichnende funktionale Differenzierung der Gesellschaft nicht
hinzunehmen, sondern sie durch Formen geselliger Kommunikation zu
überwinden. Ohne zu restratifizieren, sollen diese Formen es ermöglichen,
durch wechselseitige Asymmetrisierung den Diskurs auf Dauer zu stellen
und die Gesprächssituation offen zu halten. Sowohl für das Erziehungs-
als auch für das Wissenschafts- und Kunstsystem kann dieses als
Geselligkeitsentwurf scheiternde Konzept als Imperativ systemischer
Steigerung genutzt werden; er wirkt als Anweisung, Umwelt
miteinzubeziehen und vermag auf diese Weise das jeweilige Funktionssystem
zu transformieren.
Loet Leydesdorff:
The Post-Institutional" Perspective: Society as an emerging
system with dynamically changing boundaries
Um die Beziehung zwischen einem sozialen System und dessen Umwelt
adäquat erfassen zu können, ist die Metapher der Autopoiesis eines
beobachtbaren Systems nicht geeignet. Ein soziales System kann nicht
als ein Sachverhalt verstanden werden, der unabhängig von seinem
Kontext besteht, sei es nun in zeitlicher oder räumlicher Hinsicht
oder hinsichtlich der Beziehungen mit der Umwelt. Als Teilnehmer
von sozialen Systemen können reflektierte Akteure aber auf der Basis
von Beobachtungen Hypothesen über dieses soziale System entwickeln.
Strukturen, Funktionen und Systemgrenzen können dabei als Erwartungen
konzipiert werden. Die reflexive Spezifizierung der Erwartungen
kann dann einen Unterschied darstellen, der für das System der Erwartungen
von Bedeutung ist. Vorgeschlagen wird ein sozialer Mechanismus für
die Erneuerung von Erwartungen und damit für eine reflexive Veränderung
sozialer Systeme. Aus dieser Perspektive und auf der Basis soziologischer
Theorien und Forschungsergebnisse werden Implikationen für die Veränderung
von Systemgrenzen herausgestellt.
Elena Esposito:
Unlösbarkeit der Reflexionsprobleme
Die Themenbereiche Ökologie, Risiko und Exklusion werden als Reflexionsprobleme
behandelt, die auf die Form der Beobachtung zweiter Ordnung zurückgeführt
werden müssen. Diese Form der Beobachtung ist ein typisches Merkmal
der modernen funktional differenzierten Gesellschaft. Sie erzwingt
eine vorher unbekannte Form von Reflexivität und den Einschlu8 des
Beobachters in den beobachteten Bereich (Autologie). Damit verbunden
sind die ständige (obwohl meistens latente) Auseinandersetzung mit
Paradoxien, eine konstitutive Unsicherheit (Kontingenz) und die
unvermeidliche Unlösbarkeit einer bestimmten Typik von Problemen,
die mit den Problemformeln Risiko, Ökologie und Exklusion bezeichnet
wird. Nicht immer realisiert jedoch die Semantik zur Beschreibung
der modernen Gesellschaft die Beobachtung zweiter Ordnung
in letzten Konsequenz: dann sucht man nach einer Lösung der Reflexionsprobleme.
Am Beispiel der Themen Planung und Zufall wird dagegen die Haltung
einer autologischen Beobachtung dargestellt, welche Kontingenz und
Unsicherheit als Ressourcen für selbstbeobachtende Systeme behandelt,
anstatt sie als zu überwindende Probleme aufzufassen. Die Einstellung
zu den Reflexionsfragen entspricht der (mehr oder weniger vollständigen)
Art der Beobachtung zweiter Ordnung.
Armin Nassehi /Gerd Nollmann:
Inklusionen. Organisationssoziologische Ergänzungen der Inklusions-/Exklusionstheorie
Die Theorie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ersetzt
den Begriff Integration durch Inklusion,
um die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft zu beschreiben.
Anstatt anzunehmen, daß soziale Ordnung nur auf der Basis einer
normativen Intregation der Gesellschaft möglich ist, stellt sie
die Frage, auf welche Weise die unterschiedlichen historischen Differenzierungsformen
der Gesellschaft die Inklusion des Individuums in das soziale Leben
jeweils sicherstellen. Allerdings hat die Theorie der funktionalen
Differenzierung bisher kaum die Art und Weise untersucht, in der
die moderne Gesellschaft ihr Personal inkludiert, da sie sich in
ihrer Analyse primär auf die Ebene der Funktionssysteme beschränkt
hat. Der Beitrag versucht zu zeigen, daß der Begriff der Inklusion
nicht nur auf der Ebene der Gesellschaft, sondern auch auf der Ebene
formaler Organisationen ausgearbeitet werden muß. Auf diese Weise
kann die Perspektive der Theorie funktionaler Differenzierung erweitert
und mit dem diagnostischen Potential solcher Theorien zusammengeführt
werden, die den zunehmenden Verlust der normativen Intergration
der Gesellschaft in der Moderne behaupten.
Peter Fuchs:
Weder Herd noch Heimstatt - Weder Fall noch Nichtfall. Doppelte
Differenzierung im Mittelalter und in der Moderne
Seit einiger Zeit wird im Rahmen der soziologischen Systemtheorie
die Frage diskutiert, ob die moderne Gesellschaft, gezwungen durch
ihre eigenen Strukturen, sich in zwei Domänen spaltet, in die Domäne
der Inklusion (totale Partizipation) und in die Domäne der totalen
Exklusion. Diese Annahme wird geprüft unter Bezug auf das europäische
Mittelalter. Das Ergebnis ist, daß das Mittelalter totale Exklusion
in der Form der vagabondage" kannte und darauf reagierte
mit einer großen Vielfalt von Institutionen, die man heute Institutionen
der Sozialarbeit nennen würde. Das späte Mittelalter bekämpfte das
Problem mit dem Konzept der Zwangsarbeit. Die These ist, daß die
moderne Gesellschaft, insoweit sie die Vollform funktionaler Differenzierung
erreicht, totale Exklusion ausschließt. Stattdessen entwickelt sie
die Form supplementärer Inklusion, wenn ihr eigentliches Inklusionsmedium
(Erwerbsarbeit) versagt.
Marc Chaves:
Secularization: A Luhmannian Reflection
Säkularisierung als ein theoretisch sinnvolles Konzept anzusehen,
fällt heute zunehmend schwer. Luhmanns Theorie hingegen, insbesondere
seine Analyse der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft,
ermöglicht es, Säkularisierung auf eine solche Weise zu konzeptualisieren,
daß bestimmte signifikante Dimensionen der gesellschaftlichen Entwicklung
beleuchtet werden. Dieser Essay zeigt, wie Luhmanns Analyse der
gesellschaftlichen Differenzierung sowohl zu einer konzeptuellen
Klärung als auch zu einer empirischen Konkretisierung dessen beitragen
kann, was hier gesellschaftliche Säkularisierung genannt wird. Diskutiert
wird auch, wie der gleiche Ansatz hilfreich ist bei der Unterscheidung
und Analyse von individuellen und organisationalen Aspekten der
Säkularisierung. Insgesamt wird betont, daß Luhmanns Konzeption
sozialer Strukturen als bestimmte Wege der Wahrnehmung und Selektion
von Kommunikationen mit Blick auf das Säkularisierungskonzept die
theoretische Aufmerksamkeit von der Veränderung der Tiefe des religiösen
Glaubens hin zur Veränderung der gesellschaftlichen Bedeutung der
religiösen Autorität führt.
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