zurück zur Startseite


HOME
Hefte
SozSys 3 (1997), H.2
Zusammenfassungen

 

Zusammenfassungen

Peter Beyer:
Religion, residual problems, and functional differentiation: an ambigious relationsship  (Vollständiger Artikel)

Der Artikel untersucht am Beispiel der modernen Religionen die fast paradoxe Beziehung zwischen Systemisierung und Antisystemisierung in der funktional differenzierten Weltgesellschaft. Die Kritik der Religionen an den typischen Folgeproblemen dieser Gesellschaft ist symptomatisch dafür, daß gerade in diesem Bereich eine Spannung herrscht zwischen Systemisierung und Anti- oder Nicht-Systemisierung. Die Religion besitzt eine Art "Wahlverwandtschaft" mit den Folgeproblemen der modernen Gesellschaft, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen finden diese Probleme einen Widerhall in den Schwierigkeiten, Religion als ein funktionales System unter anderen zu konstruieren, und zum andern wegen der holistischen Perspektive der differenzierten Religion überhaupt. Die Probleme, die uns als charakteristische Folgen der Dominanz spezialisierter Technik erscheinen, verweisen auf die Ambivalenz, die sich aus der Umstrukturierung der Religion in eine spezialisierte Technik ergeben, und auf die Schwierigkeit, in der heutigen Gesellschaft diese Folgeprobleme auf einer anderen Basis als der technisch-funktionalen zu bewältigen.

Dietrich Schwanitz:
Der Antisemitismus oder die Paradoxierung der Außengrenze

Die Tatsache, daß der Motivkomplex der antisemitischen Beschuldigungen, der in den spätmittelalterlichen Judenverfolgungen entsteht, den Wechsel vom religiösen zum rassistischen Antisemitismus praktisch unverändert überdauert, stellt Dirk Richters neuerlich vertretene These vom Antisemitismus als Verlängerung des Nationalismus in Frage. Indem sie sich auf das semantische Material konzentriert, benutzt die vorliegende Untersuchung Shakespeares Kaufmann von Venedig, um das Konzept des Szenarios als einer Form dramatischer Selbststabilisierung einzuführen und die antisemitischen Anklagen – Wucher, Hostienschändung, Ritualmord, Brunnenvergiftung und Verschwörung mit dem Teufel, die Weltherrschaft zu erobern – als Verletzung des Selbstbefriedigungsverbots der Mediencodes zu rekonstruieren. Die Persistenz des Shakespeare-Szenarios im 19. Jahrhundert verbindet dies mit einer Form gesellschaftlicher Selbstbeobachtung, die sich der Differenz Bourgoisie/Adel bedient, und führt zu der Folgerung, daß der Antisemitismus nicht aus der Verschärfung der Zwei-Seiten-Form „Nation" zu verstehen ist, sondern als Reaktion auf die Paradoxierung aller kulturellen Differenzierungen, seien sie national, religiös, sozial oder subsystemisch-spezifisch.

William Rasch:
The Limit of Modernity: Luhmann and Lyotard on Exclusion

Der Aufsatz geht der Frage nach, wie in den Theorien Luhmanns und Lyotards Exklusion auf eine deskriptive (logische) sowie auf eine präskriptive (moralische/politische) Weise gedacht wird. In der Auseinandersetzung mit den beiden Autoren wird die Antinomie zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft nicht aufgehoben, sondern beibehalten. Der Aufsatz weist aber auch auf neuere Arbeiten beider Autoren hin, um die Frage aufzuwerfen, ob es möglich ist, die Grenze der Moderne (der funktionalen Differenzierung) zu denken, ohne eine utopische Alternative setzen zu müssen.

Hans Bernhard Schmid:
Europa" und die „Weltgesellschaft". Zur systemtheoretischen Kritik der transzendentalen Phänomenologie

Der Vermutung, daß das Verhältnis der Systemtheorie zur „Subjektphilosophie" komplexer strukturiert sein könnte, als es der von Luh-mann verkündete „Abschied von Alteuropa" einer-seits, der von Kritikern ge-äußerte Vorwurf die Systemtheorie durch und durch bestimmender „subjektphilosophischer Erblasten" andererseits suggerieren, wird hier anhand des Verhältnisses der Luhmannschen Systemtheorie zu Husserls transzen-den-taler Phänomenologie nachgegangen. Von der Luhmannschen Diagnose des „Scheiterns" der Subjektphilosophie in Husserls Ringen mit dem Problem der Intersub-jektivität zur systemtheorieeigenen Bestimmung des Intersystemver-hältnisses übergehend, werden die der Subjektphilosophie entstammenden kategorialen Bestimmungsstücke des systemtheoretischen Gesellschaftsbegriffes gesammelt. Anschließend wird das in der Systemtheorie in jüngerer Zeit in Mode gekommene Thema der „Exklusion" aufgegriffen und der Vorschlag gemacht, aus ihm Konsequenzen entweder hinsichtlich der der Subjektphilosophie abgewonnene systemtheoretische Begrifflichkeit, oder aber hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Subjektphilosophie und Systemtheorie zu ziehen.

Klaus P. Japp:
Die Beobachtung von Nichtwissen

In dem Aufsatz wird versucht, die Unterscheidung zwischen spezifischem und unspezifischem Nichtwissen für die Thematisierung von Wissensformen zu nutzen, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnis, auf Risiko und auf die Kategorie der Katastrophe beziehen. Unspezifisches Nichtwissen wird als unmarked space der Wissensgenerierung behandelt und mit kategorischen Imperativen der Katastrophenvermeidung in Zusammenhang gebracht. Im Unterschied zum Risikofall und zu dem wissenschaftlicher Erkenntnis werden Katastrophen als ‘Ergebnis’ kompletter Negation von Wissensbeständen eingeführt. Die Kommunikation von Katastrophen folgt also nicht externen Sachverhalten, sondern der von ‘Katastrophenschwellen’ abhängigen Operation der Zurückweisung von Wissensansprüchen. Dieses Argument wendet sich gegen den realistischen Begriff von Nichtwissen eines ‘halbierten Konstruktivismus’ und zieht daraus Konsequenzen für die Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften.

Gunther Teubner :
Im blinden Fleck der Systeme: Die Hybridisierung des Vertrages

Was sind die Folgen funktionaler Differenzierung für die Institution des Vertrages? Insofern die traditionelle Einheit des Vertrages sich in eine Vielzahl von systemspezifischen Handlungsketten (wirtschaftliche Transaktion, Rechtsversprechen, produktive Vereinbarung) aufgelöst hat, wird es notwendig, die Bindungskraft des Vertrages von einer interpersonalen auf eine intersystemische  Beziehung umzustellen. These des Beitrages ist es, daß sich die so gefaßte Einheit des Vertrages im blinden Fleck der Unterscheidungen von System und Umwelt befindet und nur einer Analyse zugänglich ist, die – supplementär zur Systemtheorie – genau diesen blinden Fleck ausleuchtet.

Hans-Joachim Giegel:
Moral und funktionale Differenzierung

Angesichts gravierender Folgeprobleme, die funktional ausdifferenzierte Subsysteme aufgrund ihrer spezifischen Operationsweise hervorrufen, ist zu fragen, inwieweit es auf der Basis moralischer Kommunikation nicht nur möglich ist, diese Probleme zu thematisieren, sondern auch die Suche nach angemessenen Problemlösungen zu befördern. Eine überzeugende Geltung gewinnt moralische Kommunikation aber zunächst nur in einem eng begrenzten Bereich alltäglicher Erfahrungen. Dem Versuch, Moral auf komplexere soziale Zusammenhänge zu beziehen, stellen sich hingegen spezifische Schwierigkeiten entgegen. Moralische Orientierungen werden leicht ausgebeutet, haben mit Synthetisierungsproblemen zu kämpfen, sind kaum in der Lage, sich auf Sachprobleme mit hoher Komplexität angemessen zu beziehen und lassen sich nur schwer mit den Operationen funktional differenzierter Teilsysteme zusammenführen. Beim Übergang in Bereiche mit komplexen Problemstellungen können aber spezifische Zusatzeinrichtungen helfen, eine angemessene Operation moralischer Kommunikation zu sichern. Anders als Systemtheoretiker annehmen, ist die Bedeutung moralischer Kommunikation nicht davon abhängig, daß diese sich als ein eigenes funktional spezifiziertes Subsystem ausdifferenziert. Bei alldem bleibt Moral riskant – aber damit teilt sie nur die Riskantheit anderer Formen gesellschaftlicher Kommunikation.

Jürgen Fohrmann:
Gesellige Kommunikation um 1800. Skizze einer Form

Der Beitrag verfolgt den um 1800 beobachtbaren Versuch, die sich abzeichnende funktionale Differenzierung der Gesellschaft nicht hinzunehmen, sondern sie durch Formen geselliger Kommunikation zu überwinden. Ohne zu restratifizieren, sollen diese Formen es ermöglichen, durch wechselseitige Asymmetrisierung den Diskurs auf Dauer zu stellen und die Gesprächssituation offen zu halten. Sowohl für das Erziehungs- als auch für das Wissenschafts- und Kunstsystem kann dieses als Geselligkeitsentwurf scheiternde Konzept als Imperativ ‘systemischer Steigerung’ genutzt werden; er wirkt als Anweisung, ‘Umwelt’ miteinzubeziehen und vermag auf diese Weise das jeweilige Funktionssystem zu transformieren.

Loet Leydesdorff:
The „Post-Institutional" Perspective: Society as an emerging system with dynamically changing boundaries

Um die Beziehung zwischen einem sozialen System und dessen Umwelt adäquat erfassen zu können, ist die Metapher der Autopoiesis eines beobachtbaren Systems nicht geeignet. Ein soziales System kann nicht als ein Sachverhalt verstanden werden, der unabhängig von seinem Kontext besteht, sei es nun in zeitlicher oder räumlicher Hinsicht oder hinsichtlich der Beziehungen mit der Umwelt. Als Teilnehmer von sozialen Systemen können reflektierte Akteure aber auf der Basis von Beobachtungen Hypothesen über dieses soziale System entwickeln. Strukturen, Funktionen und Systemgrenzen können dabei als Erwartungen konzipiert werden. Die reflexive Spezifizierung der Erwartungen kann dann einen Unterschied darstellen, der für das System der Erwartungen von Bedeutung ist. Vorgeschlagen wird ein sozialer Mechanismus für die Erneuerung von Erwartungen und damit für eine reflexive Veränderung sozialer Systeme. Aus dieser Perspektive und auf der Basis soziologischer Theorien und Forschungsergebnisse werden Implikationen für die Veränderung von Systemgrenzen herausgestellt.

Elena Esposito:
Unlösbarkeit der Reflexionsprobleme

Die Themenbereiche Ökologie, Risiko und Exklusion werden als Reflexionsprobleme behandelt, die auf die Form der Beobachtung zweiter Ordnung zurückgeführt werden müssen. Diese Form der Beobachtung ist ein typisches Merkmal der modernen funktional differenzierten Gesellschaft. Sie erzwingt eine vorher unbekannte Form von Reflexivität und den Einschlu8 des Beobachters in den beobachteten Bereich (Autologie). Damit verbunden sind die ständige (obwohl meistens latente) Auseinandersetzung mit Paradoxien, eine konstitutive Unsicherheit (Kontingenz) und die unvermeidliche Unlösbarkeit einer bestimmten Typik von Problemen, die mit den Problemformeln Risiko, Ökologie und Exklusion bezeichnet wird.  Nicht immer realisiert jedoch die Semantik zur Beschreibung der modernen Gesellschaft  die Beobachtung zweiter Ordnung in letzten Konsequenz: dann sucht man nach einer Lösung der Reflexionsprobleme. Am Beispiel der Themen Planung und Zufall wird dagegen die Haltung einer autologischen Beobachtung dargestellt, welche Kontingenz und Unsicherheit als Ressourcen für selbstbeobachtende Systeme behandelt, anstatt sie als zu überwindende Probleme aufzufassen. Die Einstellung zu den Reflexionsfragen entspricht der (mehr oder weniger vollständigen) Art der Beobachtung zweiter Ordnung.

Armin Nassehi /Gerd Nollmann:
Inklusionen. Organisationssoziologische Ergänzungen der Inklusions-/Exklusionstheorie

Die Theorie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ersetzt den Begriff ‘Integration’ durch ‘Inklusion’, um die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft zu beschreiben. Anstatt anzunehmen, daß soziale Ordnung nur auf der Basis einer normativen Intregation der Gesellschaft möglich ist, stellt sie die Frage, auf welche Weise die unterschiedlichen historischen Differenzierungsformen der Gesellschaft die Inklusion des Individuums in das soziale Leben jeweils sicherstellen. Allerdings hat die Theorie der funktionalen Differenzierung bisher kaum die Art und Weise untersucht, in der die moderne Gesellschaft ihr Personal inkludiert, da sie sich in ihrer Analyse primär auf die Ebene der Funktionssysteme beschränkt hat. Der Beitrag versucht zu zeigen, daß der Begriff der Inklusion nicht nur auf der Ebene der Gesellschaft, sondern auch auf der Ebene formaler Organisationen ausgearbeitet werden muß. Auf diese Weise kann die Perspektive der Theorie funktionaler Differenzierung erweitert und mit dem diagnostischen Potential solcher Theorien zusammengeführt werden, die den zunehmenden Verlust der normativen Intergration der Gesellschaft in der Moderne behaupten.

Peter Fuchs:
Weder Herd noch Heimstatt - Weder Fall noch Nichtfall. Doppelte Differenzierung im Mittelalter und in der Moderne

Seit einiger Zeit wird im Rahmen der soziologischen Systemtheorie die Frage diskutiert, ob die moderne Gesellschaft, gezwungen durch ihre eigenen Strukturen, sich in zwei Domänen spaltet, in die Domäne der Inklusion (totale Partizipation) und in die Domäne der totalen Exklusion. Diese Annahme wird geprüft unter Bezug auf das europäische Mittelalter. Das Ergebnis ist, daß das Mittelalter totale Exklusion in der Form der „vagabondage" kannte und darauf reagierte mit einer großen Vielfalt von Institutionen, die man heute Institutionen der Sozialarbeit nennen würde. Das späte Mittelalter bekämpfte das Problem mit dem Konzept der Zwangsarbeit. Die These ist, daß die moderne Gesellschaft, insoweit sie die Vollform funktionaler Differenzierung erreicht, totale Exklusion ausschließt. Stattdessen entwickelt sie die Form supplementärer Inklusion, wenn ihr eigentliches Inklusionsmedium (Erwerbsarbeit) versagt.

Marc Chaves:
Secularization: A Luhmannian Reflection

Säkularisierung als ein theoretisch sinnvolles Konzept anzusehen, fällt heute zunehmend schwer. Luhmanns Theorie hingegen, insbesondere seine Analyse der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, ermöglicht es, Säkularisierung auf eine solche Weise zu konzeptualisieren, daß bestimmte signifikante Dimensionen der gesellschaftlichen Entwicklung beleuchtet werden. Dieser Essay zeigt, wie Luhmanns Analyse der gesellschaftlichen Differenzierung sowohl zu einer konzeptuellen Klärung als auch zu einer empirischen Konkretisierung dessen beitragen kann, was hier gesellschaftliche Säkularisierung genannt wird. Diskutiert wird auch, wie der gleiche Ansatz hilfreich ist bei der Unterscheidung und Analyse von individuellen und organisationalen Aspekten der Säkularisierung. Insgesamt wird betont, daß Luhmanns Konzeption sozialer Strukturen als bestimmte Wege der Wahrnehmung und Selektion von Kommunikationen mit Blick auf das Säkularisierungskonzept die theoretische Aufmerksamkeit von der Veränderung der Tiefe des religiösen Glaubens hin zur Veränderung der gesellschaftlichen Bedeutung der religiösen Autorität führt.

 

zum Seitenanfang