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SozSys 7 (2001), H.1
Zusammenfassungen

 

Zusammenfassungen

Essays zu Niklas Luhmanns 'Die Religion der Gesellschaft'

Detlef Pollack:
Probleme der funktionalen Religionstheorie Niklas Luhmanns

Funktionale Analysen untersuchen Gegenstände im Hinblick auf Probleme, die mit ihnen gelöst sind. Aus dieser Herangehensweise resultieren eine Vielzahl von methodologischen Problemen, von denen vier hier im Hinblick darauf, wie Luhmann mit ihnen umgeht, behandelt werden: das Problem der inkongruenten Perspektive, das der Wahl des jeweiligen Bezugsgesichtspunktes, der Unbestimmtheit und Weite funktionaler Analysen sowie das Problem der häufig mit funktionalen Herangehensweisen verbundenen Unterstellung eines invarianten Bedarfs an funktionalen Problemlösungen. Besonderer Wert wird auf die Herausarbeitung des Widerspruchs zwischen der Behauptung der Nichtsubstituierbarkeit von Religion und dem Nachweis funktionaler Äquivalente für sie sowie auf das Spannungsverhältnis zwischen der Möglichkeit religiöser Funktionserfüllung und innerreligiösem Funktionsbewußtsein gelegt.

Rudolf Schlögl:
Historiker, Max Weber und Niklas Luhmann.

Zum schwierigen, (aber möglicherweise produktiven) Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Systemtheorie I. Historiker werden die "Religion der Gesellschaft" in erster Linie aus der Perspektive der Weberschen Religionssoziologie wahrnehmen. II. Für den Frühneuzeithistoriker ist in der religionssoziologischen Argumentation Luhmanns die Feststellung zentral, daß die Ausbildung eines stabilen symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums für das Sozialsystem Religion mißlingt und die Geschichte von Religion in der Frühen Neuzeit deswegen durch die Suche nach Substituten gekennzeichnet ist. III. Während Max Weber Religion in einen ursächlichen Zusammenhang zur Herausbildung des okzidentalen Rationalismus setzt und insbesondere im asketischen Protestantismus eine der Haupttriebkräfte identifiziert, verweist Luhmann auf den universalen Charakter der Heilsunsicherheit, die für die Evolution von Religion relevant wird, sobald sie sich auf einen (einzigen) Beobachtergott eingelassen hat. Für die Geschichtsforschung zur Frühen Neuzeit ergeben sich mehrere Anschlußstellen zu dieser systemtheoretischen Religionssoziologie. Sie liegen vor allem in einem kommunikationstheoretisch fundierten Begriff der Religion, in der Typologie sozialer Systembildung und im Begriff der Säkularisierung, den Luhmann expliziert.

Peter Beyer:
Religion as Communication in Niklas Luhmann's "Die Religion der Gesellschaft"

Luhmanns Umschalten auf Kommunikation als dem sozialen Grundelement seiner Theorie der Gesellschaft legt die Frage nahe, wie er Religion als Kommunikation verstanden hat. Der folgende Beitrag geht dieser Frage anahnd aller Luhmmannschen Veröffentlichungen über Religion, insbesondere aber mit Blick auf seinen letzten posthum veröffentlichten Band nach. Die Analyse zeigt, daß Luhmann zweierlei Arten religiöser Kommunikation unterschieden hat. Zum einen gibt es die paradoxe Art religiöser Kommunikation: Kommunikation, die auch keine Kommunikation ist, vor allem Riten, Mythen, und Offenbarungsereignisse. Diesen Typ betrachtet Luhmann als problematisch, da er nicht klar zwischen Information und Mitteilung unterscheidet. Zum anderen gibt es Kommunikation über diese paradoxe Art der religiösen Kommunikation, und zwar Interpretationen, Kommentare, Spekulationen usw. Diese Art religiöser Kommunikation ist "normal".

Christoph Dinkel:
Glaube als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium

In der systemtheoretischen Forschung ist umstritten, ob der religiöse Glaube als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium des Religionssystems zu bewerten ist oder nicht. Der Beitrag zeigt, daß der Glaube für die protestantische Religiosität die Funktion eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums wahrnimmt.

Bernd Oberdorfer:
"Der liebe Gott sieht alles" - und wir schauen ihm dabei zu. Theologische Randbemerkungen zu Luhmanns Bestimmung von Gott als "Kontingenzformel"

Der Beitrag analysiert Luhmanns These, dass ein monotheistischer Gottesbegriff im Religionssystem die Funktion einer "Kontingenzformel" erfüllen könne, indem er systemintern anschlussfähige ("offizielle") von nicht anschlussfähigen (devianten) Kommunikationen zu unterscheiden und zugleich die Kontingenz dieser Unterscheidung zu absorbieren erlaube. Luhmanns Bestimmung des Gottesbegriffs als personaler externer Beobachter der Gesellschaft entspricht freilich weniger der christlich-theologischen Tradition insgesamt als dem Theismus des 17. und 18. Jahrhunderts, dem seit Kant, Fichte und Schleiermacher die Plausibilität entzogen ist. Die erneute Entfaltung eines auf den Gottmenschen Jesus Christus zentrierten trinitarischen Gottesgedankens im 20. Jh. lässt sich jedoch als Reaktion auf diesen Plausibilitätsverlust und als besonders konsequente Etablierung einer Kontingenzformel deuten.

Günter Thomas:
Die Unterscheidung der Trinität und die Einheit der Kontingenzformel Gott

Der Beitrag nimmt von seiten der Theologie mit Niklas Luhmann das Gespräch über den Gottesbegriff in »Die Religion der Gesellschaft« auf. Luhmann führt ihn in seiner Religionssoziologie als sogenannte Kontingenzformel ein, mit der im Religionssystem die Paradoxien des Codes bearbeitet werden. Mit Gott wird die Einheit der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz vorgestellt. Hierzu greift Luhmann auf Traditionen der philosophischen Gotteslehre zurück, die Gott als jenseits der Unterscheidung von Unterscheidung und Nichtunterscheidung denken. Der Gott der Luhmannschen Religionssoziologie ist als zeitlos und jenseits der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz, als letztlich differenzloser Letztsinn konzipiert. Auf die von Luhmann beschriebene Krise des metaphysischen Gottesverständnisses reagierte die Theologie des 20. Jahrhunderts verstärkt mit einem trinitätstheologischen Denken. Darum argumentiert der Beitrag, daß für ein Denken, das sich an einem trinitarisch differenzierten Gottesverständnis orientiert, an den Extrempositionen des Unterscheidens nicht eine Einheit, sondern eine Differenz steht. Diese Unterscheidung in Gott hat weitgehende Implikationen für das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz.

Isolde Karle:
Funktionale Differenzierung und Exklusion als Herausforderung und Chance für Religion und Kirche

Je nach Standpunkt wird beklagt oder begrüßt, dass die Kirche in der modernen Gesellschaft an kulturellem Einfluss verloren hat. Eine differenzierte Analyse im Anschluss an Niklas Luhmann zeigt indes, dass die Rede vom schwindenden Einfluss der Kirche unscharf und einseitig ist und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft nicht nur Nachteile, sondern auch spezifische Chancen für Religion und Kirche mit sich brachte und bringt. Dies wird im Hinblick auf die Exklusionsproblematik besonders deutlich. Der Beitrag zeigt, dass das Religionssystem aufgrund seiner gesellschaftlichen Sonderstellung spezifische Möglichkeiten hat, den Exklusionseffekten der Gesellschaft wirksam zu begegnen. Verschiedene Inklusionsformen der Kirche werden vorgestellt und die besondere Sensibilität christlicher Programmatik für die Differenz von Exklusion und Inklusion entfaltet.

Rudolf Stichweh:
Weltreligion oder Weltreligionen?

Der Essay betrachtet Niklas Luhmanns "Die Religion der Gesellschaft" unter dem Gesichtspunkt des Beitrags dieses Buches zur Theorie der Weltgesellschaft. Entscheidend ist, daß Luhmann nicht bei der Diagnose einer segmentären Differenzierung der Weltreligion in eine Vielzahl von Glaubenssystemen stehenbleibt. Luhmann demonstriert vielmehr eine zunehmende religiöse Varietät in der Weltgesellschaft der Gegenwart, die auf abnehmende Bindungsfähigkeit religiöser Organisationen und auf zunehmende Individualisierung der Verhaltenswahl zurückgeht. Weil Religionen externe Kriterien der Evaluation ablehnen, "insulieren" sie sich gegeneinander. Religiöse Dogmatik fungiert dabei als Differential, das den Prozeß der Anpassung eines Glaubenssystems an sich selbst steuert. Diversifizierung von Religion in der Weltgesellschaft ist das Resultat dieser Konstellation.

Aufsätze:

Stephan Fuchs:
Netzwerke

Die empirische Reichweite und Erklärungskraft von Netzwerkmodellen wird anhand verschiedener Anwendungsfeldern wie der Bildung sozialer Bewegungen und neuronalen Netzen überprüft, um eine allgemeinen Theorie des Verhaltens von Netzwerken zu skizzieren. Dabei stellt sich heraus, daß Netzwerke einige gemeinsame Eigenschaften aufweisen, z.B. Driftprozesse und eine Kern/Peripherie-Differenzierung. In Kultur-Netzwerken besteht der Kern aus Institutionen, die für einen gesunden Realismus zuständig sind, während in der Peripherie spielerisches und experimentelles Verhalten möglich ist. "Systeme" sind dann vielleicht ein Spezialfall von Netzwerken - nämlich solchen, die durch einen hohen Grad von Geschlossenheit, Grenzbildung und Selbstbezüglichkeit ausgezeichnet sind.

Thomas Hermsen:
Die Kunst der Wirtschaft und die Wirtschaft der Kunst

Der Beitrag entwirft eine Skizze für die soziologische Rekonstruktion des Wandels der Kunstförderung durch Wirtschaftsorganisationen im Übergang zur Moderne. Es wird von der These ausgegangen, dass die Veränderungen im Bereich der wirtschaftseigenen Gebrauchsweise im Umgang mit Kunst mit der Form gesellschaftlicher Systemdifferenzierung und mit den durch sie ausgelösten Komplexitätssteigerungen zusammenhängen. Am Beispiel Deutschlands wird aufgezeigt, dass sich mit der Umstellung der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung die Motive und Bedingungen der Kunstförderung von Wirtschaftsorganisationen im Übergang von der Unternehmerorganisation zur Unternehmensorganisation gewandelt haben: von der Kommunikation von Bildung und Entscheidungsfähigkeit hin zur Kommunikation von Multireferenz.

André Kieserling:
Das Ende der guten Gesellschaft
(Vollständiger Aufsatz als PDF-Datei)

Der Text unterscheidet zwei Möglichkeiten, die gute Gesellschaft von der bloßen Gesellschaft zu unterscheiden: Repräsentation und Gegenrepräsentation. Von Repräsentation kann man sprechen, wenn die gute Gesellschaft in Übereinstimmung mit der Differenzierungsform des Gesellschaftssystems identifiziert wird. In genau diesem Sinne hatte man, solange die Gesellschaft noch primär in Schichten differenziert war, die Interaktion in den oberen Schichten als die eigentliche und gute Gesellschaft bezeichnen können. Der Wechsel der Differenzierungsform im Übergang zur modernen Gesellschaft läßt diese Möglichkeit zerfallen. Die Gesellschaft ist nun primär in Funktionssysteme differenziert, von denen keines mehr die Gesellschaft in der Gesellschaft und für andere Funktionssysteme repräsentieren kann. Statt dessen wird die gute Gesellschaft nun in der Distanz zu den Funktionssystemen, wenn nicht im Protest gegen diese vermutet. Der Text verfolgt die Schwierigkeiten dieses Wechsels von Repräsentation zu Gegenrepräsentation zunächst an einigen frühmodernen Modellen für Interaktion unter Anwesenden und sodann an den heutigen Protestbewegungen.

Dirk Kretzschmar / Niels Werber:
Zwischen Globalisierung und Geopolitik. Regionale Beobachtungen der Weltgesellschaft durch die politische Semantik am Beispiel der USA und Russlands

Der Beitrag geht einer spezifischen Ausprägung der Differenz zwischen Lokalem und Globalem in der Weltgesellschaft nach: Russland, die USA und Deutschland werden als Regionen der Weltgesellschaft daraufhin verglichen, welche differenten politischen Selbstbeschreibungen sie aus dem Faktum der technischen, ökonomischen und kommunikativen Globalisierung ableiten. Während hierzulande eine Semantik der Globalisierung vorherrscht, die aus der (kommunikations-)technisch und logistisch verfassten Weltgesellschaft einen allinklusiven und vor allem pazifizierten Weltstaat hervorgehen sieht, der nur noch auf geeignete globale Institutionen wartet, entsteht in Russland und den USA eine Konkurrenzsemantik der Geopolitik, deren Paradigmen sich im globalen "Atopia" längst überlebt haben müssten. Dort ist nicht nur weiterhin von den traditionellen "souveränen Interessen" von Nationalstaaten oder ökonomischen Gründen für gegenwärtige und zukünftige Konflikte die Rede, sondern zunehmend auch von "kulturellen" Gegensätzen zwischen den Räumen und Territorien der Weltgesellschaft.
Man hat es also gegenwärtig mit zwei Semantiken der Weltgesellschaft zu tun, die beide auf der Beobachtung einer massenmedialen, technischen und logistischen Totalerschließung der Welt basieren, aus diesem Befund jedoch zu unterschiedlichen Prognosen gelangen: einer optimistischen Semantik der globaler Unifizierung auf der einen, sowie einer eher skeptischen Semantik künftiger Bruchlinienkonflikte auf der anderen Seite.

 

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