Zusammenfassungen
Rudolf Stichweh
Genese des globalen Wissenschaftssystems
Der Aufsatz analysiert emergente Eigentümlichkeiten,
Kerninstitutionen, Prozeßphasen und Mechanismen in der Genese
der Weltwissenschaft. Zunächst wird die Unterscheidung von
Universalität, Globalität und Inklusion untersucht. Universalität
erweist sich als die selbsterzeugte Erwartung einer räumlichen,
zeitlichen, sachthematischen und sozialen Uneingeschränktheit
der Wissenschaft und ihrer Wahrheitsbehauptungen. Globalität
meint die strukturelle Realisierung der räumlichen Ubiquität
und der Singularität dieses Systems. Inklusion ist der Realprozeß der
progressiven Ausweitung der Adressaten wissenschaftlicher Kommunikation.
Die Universität und die res publica literaria (Gelehrtenrepublik)
werden als institutionelle Erfindungen in der Globalisierung von
Wissenschaft analysiert. Als zentral für die Ausdifferenzierung
der modernen Wissenschaft (und anderer Funktionssysteme) erweist
sich das „Paradox der Nationalisierung“, d.h. der Kontraktion
des kommunikativen Raums im Moment der Entstehung moderner Formen
der Wissenschaft. Zwei weitere Teilprozesse der Entstehung der
Weltwissenschaft werden betrachtet: die Exklusion der Anwendungen
und ihre Wiedereinschließung in der Form einer eigenen (technischen)
Autonomie des Wissens. Zweitens die Entstehung einer Weltöffentlichkeit
der Wissenschaft. Abschließend wird auf disziplinäre
und subdisziplinäre Differenzierung als den zentralen Mechanismus
der strukturellen Realisierung von Weltwissenschaft verwiesen.
Barbara Kuchler
Das Problem des Übergangs in Luhmanns Evolutionstheorie
Der Text kritisiert die Evolutionstheorie von
Niklas Luhmann dafür, dass sie zwar eine sehr präzise
Beschreibung von Änderungsvorgängen innerhalb bestimmter
Differenzierungsformen (segmentäre, stratifikatorische und
funktionale Differenzierung) bereit hält, aber den Übergang
von einer solchen Differenzierungsform in die andere nicht erklären
kann. Luhmann wird daher seinem Anspruch nicht gerecht, eine
Kompletttheorie der gesellschaftlichen Entwicklung zu liefern,
die noch die „Evolution der Evolution“ selbst erfassen
kann, er fällt vielmehr in eine Art Phasentheorie der Entwicklung
zurück. Dieses Urteil muss auch dann aufrechterhalten werden,
wenn einige differenzierungstheoretische Überlegungen Luhmanns
mit in Betracht gezogen werden, in denen er die Auflösung
einer bestimmten Differenzierungsform aus ihrer eigenen Logik
heraus und ihre Überführung in eine andere beschreibt.
Diese Überlegungen zielen zwar genau auf den kritischen
Punkt des Übergangs. Bei näherem Hinsehen zeigt sich
jedoch, dass sie nicht mit evolutionstheoretischen, sondern mit
mehr oder weniger dialektischen Denkmitteln gearbeitet sind.
Sie können daher die Lücke in der Evolutionstheorie
nicht füllen, sondern stellen vielmehr eine alternative
und mit der Evolutionstheorie konkurrierende Theoriestrategie
zur Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung dar.
Klaus P. Japp
Zur Soziologie des fundamentalistischen Terrorismus
Der politische Extremismus des Islam wird überwiegend
auf sozio-ökonomische Deprivationen und/oder kulturelle Orientierungs-
und Anerkennungsdefizite zurückgeführt. In diesem Zusammenhang
dominiert ein argumentum ad hominem, dessen empirischer Hintergrund
durch die Realitätskonstruktionen der Massenmedien aufgebaut
wird. Der Artikel stellt dagegen auf Kommunikation um und zielt
auf Wiederbeschreibung dessen, was die Massenmedien vorgeben. Im
Mittelpunkt steht die paradoxe Kommunikation von Einheitssemantiken
des islamischen Fundamentalismus im Kontext funktionaler Differrenzierung
und des politischen Extremismus des Islam im Kontext sich modernisierender
politischer Systeme in der 'peripheren Moderne'. Als
grundlegend wird die Paradoxie von säkularer Kontingenz und
religiöser Letztbegründung veranschlagt. Deren Entparadoxierung
führt – über verschiedene Stufen hinweg – zur
'ultimativen Kommunikation' des Terrorismus. Dies wird als
strukturelle Implikation der Weltgesellschaft identifiziert und
gerade nicht
als bloß regionale Abweichung von der weltweiten Durchsetzung
funktionaler Differenzierung.
Elena Esposito
Vom Modell zur Mode. Medien und Formen der Nachahmung
Ausgehend von der Diagnose der Veränderung
der Vorstellung vom Modell in der Moderne diskutiert der Text die
Formen der Nachahmung: von der Imitation der auctores zur Unterstützung
der Kreativität und der Produktion des Neuen, von der Wiederholung
zur Überraschung (Information). Diese Wandlungen werden mit
entsprechenden Veränderungen der Struktur der Gesellschaft
und ihrer Semantik korreliert, insbesondere mit dem für die
Massenmedien typischen Präferenz für Neues. Die Frage
ist dann, welche Rolle die Nachahmung überhaupt noch spielen
kann. Die Form der Mode wird als eigentümliche Kombination
von Originalität und Nachahmung diskutiert: eine paradoxale
Imitation der Neuheit, die ständig wechselt und den Zeitbezug
auf Gleichzeitigkeit verlegt. Das erfordert eine unvorgesehene
soziale und zeitliche Reflexivität.
Ruth Simsa
Defizite und Folgeprobleme funktionaler Differenzierung.
Ein Vorschlag zur Beobachtung von Reaktionen der Gesellschaft
In dem Beitrag wird die These vertreten, dass
die Gesellschaft sich selbst nicht nur mittels der Unterscheidungen
der Funktionssysteme erster Ordnung beobachtet, sondern auch in
bezug auf Folgeprobleme funktionaler Differenzierung. Aufbauend
auf einen Vorschlag zur Systematisierung von gesellschaftlich thematisierten
Defiziten und Folgeproblemen funktionaler Differenzierung wird
eine Beobachtung der Gesellschaft auf Basis der Unterscheidungen
Inklusion/Exklusion, Internalisierung/Externalisierung und Integration/Desintegration
angeregt, welche Probleme theoretisch erfassen und systematisieren
soll, die im Rahmen gesellschaftlicher Kommunikation beobachtet
und thematisiert werden. Anschließend wird die Ausbildung
von Kommunikationszusammenhängen diskutiert, welche sich auf
Probleme spezialisieren, die von den Funktionssystemen nicht gelöst
bzw. verursacht werden, u.a. die Ausdifferenzierung eines System
zweiter Ordnung, welches als System kritischer Öffentlichkeit
bezeichnet wird.
Warren McCulloch hat die Form seiner Auseinandersetzung
mit der Kybernetik im Rückblick als Versuch beschrieben, "zählen
zu lernen". Dabei kam es nicht darauf an, beliebige Einheiten
zu bilden und abzuzählen, sondern darauf, zu verstehen, wie
ein System im Verlaufe seiner Selbstorganisation durch das Zählen
von Zählen Einheiten bildet und aus diesen sich konstituiert.
Der vorliegende Aufsatz verallgemeinert diesen Ansatz zu einem
Versuch, das Verhältnis von Soziologie und Kybernetik auf
den Begriff des "Rechnen lernens" zu bringen. Die Soziologie
lernt von der Kybernetik, was es heißt, zu "rechnen".
Die Kybernetik lernt von der Soziologie, worin ein inhärent "sozialer" Modus
des Rechnens besteht. Der Aufsatz exemplifiziert diesen Ansatz
an den Begriffen von Zahl und Zufall, Kommunikation und Netzwerk
und veranschaulicht ihn an den Beispielen der Politik, der Organisation
und der Börse.
Jean Clam
Was ist noch Theorie? Eine Auseinandersetzung mit Peter
Fuchs’ 'Metapher des Systems'
Der Beitrag geht von Peter Fuchs’ Ausarbeitung
einer Verflechtung von Derrida'scher Dekonstruktion und Luhmann'scher
Systemtheorie aus. Er stellt die Frage nach der Möglichkeit
von Theorie unter den neuen Bedingungen postontologischen Denkens.
Zuerst wird, entgegen Fuchs’ Tendenz, die Notwendigkeit einer
schärferen Trennung zwischen Dekonstruktion und Systemtheorie
gezeigt. Das theoretische Projekt der Systemtheorie wird ernst
genommen: der Beitrag zeigt, inwiefern die Systemtheorie die inaugurale
postonotlogische Theorie darstellt. Der Begriff sowie alle Momente
postonotologischen Theoretisierens werden durchgegangen und expliziert:
Grund-Problematik, Adequität und Inadequität, Inkongruenz,
Fragmentarität. Zuletzt wird mit dem eigens hierfür entwickelten
Begriff der "Intellektion" die vollzughafte und existenzielle
Problematik von Theorie erhellt.
Thomas Kurtz
Niklas Luhmann und die Pädagogik
Niklas Luhmann gilt als einer der wichtigsten
und prominentesten soziologischen Beobachter des Erziehungssystems
und der in diesem System angefertigten Selbstbeschreibungen.
Seit seinen ersten Arbeiten mit Karl Eberhard Schorr läßt
sich die Pädagogik von seiner Systemtheorie der Erziehung
mit jeder Publikation immer wieder aufs neue irritieren. Dies
gilt auch für das posthum publizierte Manuskript „Das
Erziehungssystem der Gesellschaft“, das die mit „Soziale
Systeme“ eingeleiteten Monographien zur Gesellschaft und
seiner Funktionssysteme abschließt. Obwohl diese Studie
nur in einer relativ kurzen, unvollendeten Fassung vorliegt,
lassen sich hier gegenüber den älteren Arbeiten wesentliche
neue theoretische und inhaltliche Aspekte entdecken, die den
Ausgangspunkt für weitere Analysen zum Erziehungssystem
der Gesellschaft bilden können.
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